Samstag, 16. März 2013

Rituale

„Morgen! Morgen Kinder, geht’s in den Urlaub. Wir wollen früh losfahren. Damit wir nicht so spät am Atlantik ankommen. Außerdem müssen wir nicht so lange während der Tageshitze im Auto sitzen.“ Die Kinder sind aus dem Häuschen. Alle gehen früh ins Bett. Um vier Uhr in der Frühe gibt es Nutellabrot und Apfelschorle, um sechs Uhr sitzen alle voller Vorfreude im Auto. Der Kofferraum quillt schier über vor lauter Bade- und Sandelzeug. Kaum zehn Kilometer hinter dem Ortsschild geht es los. Plötzlich. Lautstark. Verletzend. Mama und Papa streiten. Die Kinder erstarren auf den Rücksitzen. Mucksmäuschenstill krallen sie ihre Hände in das Polster. Oder in Wuffi, den verlutschten Stoffhund. Dann – nur noch das Rauschen der Reifen auf dem heißen Asphalt. Der Fahrtwind pfeift an der Antenne. Der erste Urlaubstag ist im Eimer. Vielleicht sogar der ganze Urlaub. Erholung? Fehlanzeige!

Diese Geschichte vom Ehepaar „X“ erzählt uns Herr Meyer, der Paartherapeut, den Paula und ich konsultieren. Es hat mal wieder zu lange zu heftig zwischen uns gerau(s)cht. Herr Meyer referiert über Alltagsrituale: Ehepaar „X“ habe – vollkommen unbewusst – diesen Urlaubsstreit ritualisiert. Um die Kinder – ganz buchstäblich – mundtot zu machen. Damit Papa auf der langen Fahrt an den Atlantik (seine) Ruhe hat. Für zuhause gibt uns Herr Meyer die Frage mit, was wir ritualisiert hätten. Auf der Fahrt nach Hause müssen Paula und ich lachen: Wir? Rituale? Und womöglich welche, die wir unterbewusst für die Erfüllung egoistischer Bedürfnisse nutzen? So ein Quatsch mit Soße. Da sind wir sicher. 

Einmal pro Woche – das ist längst kein Geheimnis mehr – gehen Paula und ich zum Tanzzirkel. Leider ist ausgerechnet an diesem Tag obendrein viel los: Das ältere Kind muss zum Training gebracht und von dort wieder abgeholt werden. Letzteres eine halbe Stunde vor dem Beginn des Tanzabends um ein Viertel vor neun. Irgendwann zwischen Feierabend, Trainingsende und Tanzbeginn wollen wir – vor allem die Kinder – etwas futtern. Abgesehen davon haben Paula manchmal, ich immer einen langen Arbeitstag hinter uns. Um sowohl die nervliche als auch die zeitliche Belastung nicht unnötig in die Höhe zu treiben, haben wir den Ablauf dieses Abends verbindlich festgelegt: Ich komme eine halbe Stundefrüher „als„normal“ vom Büro nach Hause, Paula, das jüngere Kind und ich essen dann gleich zu Abend, danach hole ich das andere Kind vom Training ab, das dann alleine essen muss. (Jeder hat seinen Beitrag zu leisten!)

Seit Paulas Depression wieder hochkocht, fällt uns das Tanzen schwer. Zuweilen stehen wir uns nur noch im Wege herum. Wir tanzen eher gegen- als miteinander. Wir fetzen uns. Vor allen anderen. (Das ist nicht so peinlich, wie man denken könnte. Die anderen Paar fetzen sich auch. Wir kennen uns alle seit Jahren.) Und seit Paulas Depression wieder hochkocht, hat das Attribut „verbindlich“ seine Bedeutung eingebüßt, restlos: In einer Woche komme ich nach Hause, Paula hat noch nicht einmal damit angefangen, das Abendessen vorzubereiten. „Ich habe es einfach nicht geschafft.“ Ein andermal ist zwar ein Eintopf gekocht, aber Paula nicht da. „Ich habe den Feierabendverkehr auf dem Heimweg von einer Patientin unterschätzt.“ Klar, auch ich kam ein-, zweimal „normal“ nach Hause, also später, als verbindlich vereinbart: „Das Telefonat mit dem Kunden dauerte länger. Ich habe den Zug verpasst.“ Und so weiter, und so fort … So angestrengt ich auch nachdenke, an maximal einem der „Tanz“abende der letzten Saison sind wir einigermaßen ausgeruht zum Tanzzirkel gekommen. Wir stehen uns nur noch im Wege herum. Wir tanzen eher gegen- als miteinander. Wir fetzen uns. Dieser Abend ist im Eimer. Vielleicht sogar die ganze Saison. Entspannung? Fehlanzeige!

Obwohl wir vor ein paar Wochen „eigentlich weiter in den Tanzzirkel gehen“* wollten, haben wir unseren (Tanz)freunden in dieser Woche mitgeteilt, dass wir nächste Saison nicht dabei sein werden. Quatsch mit Soße gibt es eben nicht.


*siehe Post „Totentanz“ vom 2. Februar 2013




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen