Champion’s League
Halbfinale. Die Jungs sind mit meinem Schwiegervater in der „Sky“-Kneipe
am Tennisplatz. Paula ist auch dort, kommt aber nach Hause, sobald ihr Vater dort
eingetrudelt ist. So steht es
auf dem
Zettel an der Garderobe. „Super“ denke ich, „muss ich nicht schon wieder das
exaltierte Stadiongejohle der Jugend ertragen“. War ein bisschen viel Fußball für
meinen Geschmack in den letzten Wochen. Und: „Bis elf Uhr bin ich ja dann mit
Paula alleine!“ Wir hatten seit exakt vier Wochen keinen körperlichen Kontakt mehr.
Das weiß ich genau und trotzdem zähle ich die Tage auf dem Kalender nach … 29,
30, 31 … Okay, dann und wann ein Küsschen des Morgens zum Abschied. Mehr nicht.
Das Kloster in unserer bescheidenen Hütte.
Paula kommt nach Hause. Ihre Laune ist angesichts der
Vorkommnisse der letzten Wochen recht passabel. Sie kocht; ich decke den Tisch.
Schon das fühlt sich komisch an. Sonst machen das die Kinder. Während des
Essens sitzen wir uns alleine gegenüber. Noch komischer. Wir sprechen über die heutige
Zahnoperation von Paulas pflegebedürftiger Mutter und darüber, dass wohl alles
gut gegangen ist. Ein bisschen lästern wir dann über den Fußballabend unserer
Kinder mit Opa. Unüblich spät sind wir mit dem Abendessen zu Ende. Das
Fernsehhauptprogramm hat längst begonnen. Von den ungeöffneten DVDs nehmen wir „Biutiful“
mit dem wieder einmal unvergleichlich grandiosen Javier Bardem. Wir kennen den
Film nicht:
Uxbal, ein kleiner Ganove, versucht mehr schlecht als recht,
sich und seine beiden Kinder im Sumpf von Barcelonas Halbwelt über Wasser zu
halten. Seine Frau Marambra ist manisch depressiv. So sehr sich Uxbal auch
anstrengt, eine zumindest akzeptable Zukunft aufzubauen, das Leben jagt ihn von
einer Katastrophe in die nächste: Der Straßenhändlerring, von dem er
Provisionen kassiert, wird zerschlagen, die chinesischen Billigarbeiter, die er
an Bauunternehmer vermittelt, sterben allesamt bei einem von ihm verschuldeten
Unfall. Und: Er ist unheilbar krank – „mit gezielten Chemotherapien können wir
ihren jetzigen Zustand einige Monate stabil halten“ sagt der schmierige Arzt. Von
Minute zu Minute werden Paula und ich stiller. Zu viele Parallelen zu unserem eigenen
Leben: Zwei Kinder, Kohle knapp, Depression, die Katastrophen des Alltags, die
uns immer wieder zurückwerfen. Prostatakrebs im Endstadium habe ich zwar nicht,
aber Morgen einen Termin zur Darmspiegelung – Verdacht auf
Glutenunverträglichkeit. Von Minute zu Minute schwindet auch meine Hoffnung auf
körperliche Nähe zu Paula … 32, 33, 34 …
Die Kinder kommen heim und wir gehen alle – jeder auf seine
Art – ziemlich erschossen ins Bett. Paula und ich liegen nebeneinander, ich
lege meine Hand auf ihre Hüfte. Keine Reaktion. Das kenne ich schon. Aber gut,
den Morgen danach gibt es ja auch noch; ist ohnehin Paulas liebste Kuschelzeit.
Ich schlafe ein aber unruhig weiter: zu viel erotisches Kopfkino. Mitten in der
Nacht bin ich hellwach. Paula auch. Das spüre ich. Ich schiebe meine Hand unter
ihr Shirt, beginne sie zu streicheln. Zärtlich. Aber bestimmt. Ich möchte am
liebsten mit ihr schlafen. Ich denke, sie merkt das. Blödsinn! Natürlich merkt
sie das: Ich bin ziemlich erregt und liege auf Tuchfühlung an ihr. Meine
Hoffnung wächst … 31, 1, 2 … Irgendwann drehe ich mich auf den Rücken. Paula
bleibt, ebenfalls auf dem Rücken, liegen. Eine gefühlte Ewigkeit passiert gar nichts.
Dann nestelt sie unbeholfen an meinem Handgelenk herum. Mehr nicht. Ich bin genervt; meine Erregung weicht einem leichten Harndrang. Ich gehe ins
Bad. Als ich wiederkomme, lege ich mich mit dem Rücken zu Paula, schiebe mich
aber zur Löffelchenkuschelstellung an sie heran. Das Genestel setzt wieder ein.
Passt genau überhaupt nicht zu meinem Kopfkino. Ich hole tief Luft, ziehe das
Kissen näher an mich ran.
„Bist du jetzt sauer, oder was?“ fragt Paula in diesem
enttäuscht-spitzfindigen Ton. Mein Ton ist enttäuscht-zittrig: „Ach, es ist mal
wieder eine Frage von unterschiedlichen Erwartungen.“ Das versteht Paula nicht.
Ich wiegle zermürbt ab: „Hat eh keinen Sinn, drüber zu sprechen.“ Paula fragt,
was sie mit dieser „Pauschalaussage“ anfangen soll. Ich spreche nicht drüber.
Starre an die Innenseite meiner Augenlider. Schalte ab.
Nach einer Zeit geht Paula zur Toilette – im abgeschalteten
Zustand nehme ich die Spülung wahr. Aber Paula kommt nicht zurück. Mit
Verzögerung interpretiere ich die folgenden Geräusche als das Knacken der
Treppe und das Öffnen der Studiotüre im 2. Obergeschoß. Für einen Moment huscht
mir der Gedanke durch den Kopf, dass sich der Studiobalkon ca. 15 Meter über
dem Boden befindet. Aber schließlich begreife ich: Paula schläft auf dem Sofa …
31, 40, 50 …
Als mich Paula mit den Worten, „Wie sieht’s aus? Der Kleine und
ich haben Frühstück gemacht“, weckt, wirkt sie entspannt, freundlich und aufgeräumt.
Das ist den ganzen Tag so. Nichts davon tut sie (nur) wegen der Kinder, nichts
wirkt aufgesetzt. Das würde ich merken.
Jetzt würde ich gerne Paulas Gedanken lesen können.