Samstag, 23. November 2013

Entscheidungen II

„Montags, immer montags“. Paula und ich schauen uns ratlos an. Dann sehen wir zu Frau Schwarz hinüber. Sie ist die Klassenlehrerin unseres Jüngsten. Ihr sei aufgefallen, dass er in der Schule meistens montags fehlt, wenn er fehlt. Diese These nervt mich. In wenigen Sekunden hake ich sie innerlich als typisches Lehrergewäsch ab. Obwohl ich Frau Schwarz sehr schätze: Sie ist stets auf der Seite ihrer ABC-Schützen, immer extrem gelassen und mit fast vierzig Jahren Erfahrung gesegnet. Vielleicht ist es das, was Paula zum Nachdenken bringt. Und zu dieser Frage: „Haben Sie eine Übersicht?“ Selbstverständlich hat Frau Schwarz die Liste mit den Fehltagen griffbereit.


Die vergleicht Paula mit ihren Dienstplänen im Taschenkalender. Bingo! Bauchweh, Knie-Aua oder sonstige objektiv nicht nachprüfbaren Bedarfs- und Spontan-Krankheitsbilder treten auf, wenn Paula übers Wochenende Nachtschicht hat. Der Lütte will die Mama mal einen halben Tag für sich alleine haben. Und sei es nur, um neben ihr zu dösen, während sie sich nach der Schicht ausschläft. Das passt alles zusammen. Der Kleine ist sehr auf Paula fixiert. Und Paula auf ihn – er ist das Nesthäkchen. Es fällt uns beiden schwer, loszulassen, als er in den Kindergarten und später in die Schule kommt. (Beim Start in die Realschule sind wir dann schon eher stolz, denn ängstlich.)

Heute wollen – vielleicht auch müssen – wir den Kindern sagen, dass Paula in „Kur“ (auf diesen Begriff haben wir uns verständigt) gehen wird. Wir sind früh wach; Paula ist nervös: Hibbelig wälzt sie sich im Bett herum. Ich lasse ein fragendes „Hmmh“ verlauten. „Boah nee“, sagt Paula, „das wird mir der Kleine so was von übel nehmen.“ Mein Hinweis auf das fortgeschrittene Lebensalter des Juniors dämpft Paulas Angst nicht. „Mit gnadenloser Verachtung strafen wird er mich. Und kein Wort mehr mit mir reden“. Das ist, zumindest für ein paar Tage, nicht unwahrscheinlich. Der Junge kann ein vortrefflicher Brettschädel sein. „Wir müssen deine Therapie halt so erklären, dass er – dass beide Kinder – begreifen, dass das für uns alle eine Chance ist“. Ich bin nicht sicher, ob ich selbst an diesen Satz glaube.

Gegen Ende des Frühstücks starren Paula und ich auf unsere Teller. Ich zähle langsam bis Zehntausend, dann sehe ich Paula an. Die Tränen stehen bereits auf ihren Unterlidern. „Leute“, sage ich mit angestrengt fester Stimme, „wir müssen was mit euch besprechen." Die Jungs befürchten wohl neue Haushaltsaufgaben und reagieren entsprechend pubertär enerviert. Paula kriegt es irgendwie hin, dass ihre Stimme nicht zittert, als sie schildert, was in vierzehn Tagen auf uns alle zukommt. Kaum ist das „ … für fünf Wochen weg“ verhallt, fangen beide Jungs an, hemmungslos zu weinen. Der Kleine schlüpft auf Paulas Schoß, klammert sich um ihren Hals. Bei Paula brechen alle Dämme; ich beiße mir gewaltig auf die Zunge.

Am Nachmittag spielen wir Scrabble und ein paar Runden Uno. Trotzdem fühlt sich der Rest dieses Sonntags an wie einer in der überheizten Atmosphäre eines Krankenhauszimmers.

Am nächsten Morgen ist der Kleine krank: „irgendwie Bauchweh“. Natürlich ist heute Montag.


Samstag, 16. November 2013

Zwischenruf

Die Kinder sind kicken, Paula beim Frisör. Im Nachbarort. Sie wird in einer halben Stunde wieder da sein. Ich genieße die paar Minuten alleine zuhause, habe die  Stereoanlage voll aufgedreht. (Nachbarn und Vermieterin sind wohl einkaufen. Oder lärmtolerant.) Queen dröhnen mit geschätzten 120 Dezibel aus den Boxen: „Abandoned places – I guess we know the score. …”

Klingeling. Klingeling – das Telefon. Ich höre es kaum. Klingeling. Nach dem vierten Mal schaltet sich der Anrufbeantworter auf. Mit einer Hand reiße ich das Hand-held aus der Basisstation. Mit der anderen würge ich Freddy Mercury mit einem Druck auf die Pause-Taste ab.

„Paul Kurz, guten Tag“, sage ich. „Hallo Herr Kurz“, antwortet es vom anderen Ende der Leitung. Die Frauenstimme kommt mir entfernt bekannt vor. In den paar hundertstel Sekunden, die vergehen, bis weiter gesprochen wird, kann ich sie nicht zuordnen. „Hier spricht Brigitte Hämmerle“. Noch immer macht es nicht „klick“ in meinem Kopf. „Äh, ja …“ ich zögere. Einen Wimpernschlag lang vielleicht. Dann fällt der Groschen: Brigitte Hämmerle. Das ist Paulas Therapeutin. Sie ist krank. Paula hat mir das vor Monaten schon erzählt. Paula ist traurig deshalb. Sie versteht sich so gut mit Frau Hämmerle. Sie haben sich während der Gesprächstherapie ein Jahr lang einmal pro Woche gesehen. Vor ein paar Wochen haben sie diese Treffen wieder aufgenommen. Paula vertraut Frau Hämmerle. 100 Prozent. „Sie ist zwar manchmal ein bisschen arg anthroposophisch“, hat Paula einmal gesagt, „zündet vielleicht ein paar Kerzen zu viel an. Aber sie ist genauso, wie eine Frau in meiner Situation es sich nur wünschen kann …“. Ich selbst habe manchmal ein paar Worte mit Frau Hämmerle gewechselt. Morgens auf dem Weg in die Stadt. Sie nahm auch den Zug um 8:04 Uhr. Und sie kennt meine Schwester.

Jetzt ruft Frau Hämmerle an, weil sie Paula berichten will, dass sie einerseits noch etwas länger krankgeschrieben sei: „Ich muss noch ein paar Untersuchungen machen lassen.“ Andererseits, dass sie eine Kollegin gefunden hätte, die Sprechstunden für Paula frei hat: „Ich habe der Kollegin Paulas Akte schon zugeschickt“, sagt sie, „das ist sicher eine sehr, sehr gute Lösung für ihre Frau.“ Sie nennt mir den Namen, Frau Binninger, gibt mir eine Telefonnummer durch. Und: „Ihre Frau kann mich gerne nochmal anrufen.“ Ich versichere ihr, dass ich Paula selbstverständlich von diesem Telefonat berichten werde. Das tue ich auch. Paula freut sich, dass Frau Hämmerle angerufen hat. Aber sie ist geknickt, dass sie noch eine Zeitlang ausfällt.

Heute haben wir wieder Tanzzirkel. Das zweite Mal, nachdem Paula vor zwei Wochen aus der stationären Therapie zurückgekommen ist. Ich beeile mich, damit ich rechtzeitig (oder pünktlich) zuhause bin. Das schaffe ich. Und ich freue mich auf den Tanzabend. Letzte Woche hat alles super geklappt, ich bin voll motiviert. Ich lächle Paula an, als sie die Treppe herunterkommt. Paula lächelt nicht. Sie starrt auf den Boden. Sie begrüßt mich nicht. Aber ihr Körper spricht zu mir: „Desaster“. Paulas Stimme ist so leise, dass ich sie kaum höre.

Frau Hämmerle ist vor drei Tagen gestorben.

Wir gehen trotzdem zum Tanzzirkel. Paula hat auf der Ablenkung bestanden. Das Tanzen klappt wieder bestens. Aber Paula spricht kein Wort. Kein einziges.

„The Show must go on! Yeah! Inside my heart is breaking.”


Dienstag, 17. September 2013

Entscheidungen 1

Es ist soweit. Endlich. Gestern haben wir die Nachricht bekommen: Paula kann die stationäre Therapie machen. In einer Klinik, die ziemlich genau 600 Kilometer von hier entfernt ist. Das ist nicht die Klinik, die Paula und ihre ehemalige Therapeutin, Frau Hämmerle, ausgesucht hatten. Die ist nämlich – so sehen wir es jetzt – sozusagen um die Ecke: knapp 60 Kilometer von hier. Der Termin steht auch fest: Paula soll am 11. des nächsten Monats anreisen. Das ist in zwölf Tagen. Schluck.

Erst gegen Morgen – müde von der Urlaubsheimfahrt habe ich tief geschlafen – geistern die Gedanken über diese „medizinische Rehabilitationsmaßnahme“, den Ort und den Zeitpunkt durch meinen Kopf. Paula liegt neben mir. Hellwach. Selbstverständlich. Ob sie überhaupt ein Auge zugemacht hat? Sie sieht mitgenommen aus. Die Urlaubserholung ist verpufft. Über Nacht.

Viel zu früh stehen wir auf. Es ist Sonntag. Gemeinsam machen wir Frühstück. In aller Ruhe. Oder besser: Ganz langsam. Ohne ein Wort. Als die Kinder sich an den Tisch setzen, machen wir „gute Miene zum bösen Spiel“. Das Spiel ist nicht böse – im Gegenteil. Eigentlich. Böse ist, was das Spiel mit Paula macht: Sie isst fast nichts, am Kaffee nippt sie nur. Sie wirkt grau. Abwesend. Alt.

Die Kinder sind wieder nach oben gespurtet. Sie hoffen, sie müssen den Frühstückstisch nicht abräumen. Heute haben sie Glück. Paula und mir ist der Tisch im Moment nämlich leidlich egal. Ich sehe zu Paula hinüber. Sie zu mir. Als sich unsere Blicke treffen, fängt Paula an zu weinen. Leise zwar, aber hemmungslos. Ich nehme ihre Hände in meine. Halte sie fest. Paula beruhigt sich. Langsam. Nach einigen Minuten bringt sie ein paar Töne hervor: „Ich kann das nicht.“

Dieses „das“ klingt fast verächtlich. Oder resigniert. Auf jeden Fall abwertend. „Das“ ist doch gut. Es ist super. Es ist perfekt. Eigentlich. Ich sehe auf unsere Hände und frage leise: „Was kannst du nicht?“ Ich rechne mit Antworten wie „die Therapie machen“ oder „schon in zwölf Tagen anfangen“ oder „soweit von euch weg sein“. Paula aber sagt: „Das kann ich meinen Kollegen nicht antun. Nein, das geht nicht.“

Paulas „das“ ist ein anderes als mein „das“. Paulas geht weiter als meines. Ich stelle den Termin und den Ort in Frage. Wenn überhaupt. Paula stellt den gesamten Therapieaufenthalt in Frage. Weil ihr Kollegen-Team durch Einsparungsmaßnahmen so reduziert ist, dass schon ein einziger Krankheitsfall Personalnotstand auslöst. Weil sie viele ihrer Kollegen seit vielen Jahren kennt. Weil sie sie mag. Weil sie mit einigen sehr gut befreundet ist. Weil sie Angst hat, dass diese Freundschaften zerbrechen. Und weil sie Angst hat vor den Warum-und-wieso-Fragen.

Ich versuche Paula klarzumachen, dass das alles „Quatsch“ ist: Die realitätsfremde Sparpolitik ihres Arbeitsgebers kann nicht auf dem Rücken der Angestellten ausgetragen werden. Oder gar auf Kosten deren Gesundheit. Nach zwanzig Dienstjahren mit insgesamt vielleicht 30 Krankheitstagen ist eine – salopp gesagt – Auszeit völlig in Ordnung. Freunde, die sie deswegen fallen lassen, haben Paulas Freundschaft nicht verdient. (Auch meine nicht. Doch das nur am Rande. Für den Fall der Fälle.) Und Warum-und-wieso-Fragen muss sie nicht beantworten. Das weiß Paula als schweigeverpflichtete Klinikangestellte selbst am besten. „Dein Hemd ist dir doch näher als die Jacke“; ich schließe meinen Monolog.

Alle meine Worte helfen Paula nicht. Ihre Gedanken, ihre Gefühle rasen wie auf dem „Silverstar“ im Europa-Park mit fast 130 Sachen auf und ab. Und ähnlich wie in dieser Achterbahn reagieren Paulas Kopf und Bauch. Es dreht sich alles, die Wahrnehmung verschwimmt für einen Augenblick. Ich spüre ihre eiskalten Hände. Sie spricht nicht mehr. Für eine ganze Weile. Erst am Abend spricht sie am Telefon mit ihrer Kollegin und Freundin Tine. Sehr lange sogar. Als die Kinder schon im Bett sind, taut Paula auf: „Tine sagt genau das gleiche wie du: Die Arbeit, die Kollegen, das alles muss mir scheißegal sein.“

Sie lächelt ein bisschen dabei.


Samstag, 7. September 2013

Post

"Pauli“ – so nannte mich meine Mutter, als ich ein Kind war. (Bitte nicht weitersagen, ich habe das gehasst.) Wenn Sie mich „Paul“ nannte – das hörte ich schon an dieser überspitzen Betonung des „u“ – wusste ich: Jetzt wird es ernst. Oder unangenehm.

Wir sind gerade aus dem Urlaub gekommen. Die Post der letzten Woche stapelt sich vor der Wohnungstür. Die Nachbarn haben sie gesammelt. Paula öffnet die Tür, schiebt den Stapel beiseite. Damit ich mit den Reisetaschen rein kann. Die trage ich gleich nach oben. Die schmutzige Wäsche kommt direkt in den Wäschekorb. Als ich wieder nach unten komme, hat Paula die Post schon sortiert. Die Jahresabrechnung der Stadtwerke liegt obenauf. „Das mache ich jetzt nicht auf“, sagt Paula, „ich will mir nicht gleich die Laune verderben.“ Ich sage nur knapp „jow“, denn im letzten Jahr mussten wir 700 Euro nachzahlen.

Beim Abendessen lassen wir den Urlaub Revue passieren. Wie immer fragen wir die Kinder nach ihrem schönsten Urlaubserlebnis. Erwartungsgemäß ist das der Besuch bei der Tante und den Cousins selbst. Aber auch der Zoo und das Panorama von Yadegar Asisi kommen gut weg. Es ist ein harmonischer Abend. Ich spiele mit den Kindern noch eine Runde Trivial Pursuit. Paula kruschtelt in der Wohnung herum. Ich achte nicht weiter darauf.

„Paul“. Ich reagiere nicht. Vielleicht weil ich gerade die Frage beantworten soll, in welchem Land der Tag des 'Zahnziehers' gefeiert wird. „Paul“. Da ist es wieder. Dieses verhasst überspitzt betonte „u“. Es wird ernst. Oder unangenehm. Ich reagiere: „Was ist?“ „Kommst du mal bitte!“ Auch an diesem Ruf von Paula behagt mir die akzentuierte Betonung nicht. Ich werfe den Kindern ein Augenrollen zu und gehe ins Arbeitszimmer. Dort angekommen, schließe ich die Türe. Paulas Tonfall klingt nach Stadtwerken.

Paula sitzt am Schreibtisch. Sie hat ihr Gesicht in die Hände gestützt. Sie sieht mich an. Ihre Augen sind rötlich unterlaufen. Sie hat geweint. In aller Stille. Im Arbeitszimmer. Keine zwei Meter vom Trivial Pursuit entfernt. Ihre Laune ist buchstäblich augenscheinlich verdorben. Meine nun auch. Der Brief der Stadtwerke liegt ungeöffnet vor ihr auf dem Poststapel. Ein anderer Brief liegt vor ihr. Er sieht nicht weniger förmlich aus, als die Stromabrechnung. Allerdings ohne Tabelle. „Sie haben das genehmigt“, sagt Paula. Ich frage „Was?“ „Die Therapie“, sagt Paula. Wir schweigen.

Wir schweigen.

Wir schweigen.

„Was jetzt genau?“, frage ich nach einer Weile. „Die haben die Therapie genehmigt“, presst Paula knapp vor den wiederkehrenden Tränen heraus, „die Rentenversicherung hat mir eine stationäre Therapie genehmigt. Für fünf Wochen. Fünf Wochen. Paul.“ Ich freue mich. Wir lavieren seit fast einen halben Jahr an diesem Thema herum: Braucht Paula einen Klinikaufenthalt? Will sie das? Wie können wir das mit zwei schulpflichtigen Kindern organisieren? Wann? Zahlt die Krankenkasse eine Dorfhelferin? Bei wem stellt man wie, welchen Antrag? Welcher Psychiater kann den Antrag abzeichnen? Welche Klinik kommt in Frage? Wir hatten das alles geklärt. Und den Antrag gestellt. Die Psychiaterin hat für ihre Unterschrift sechs Wochen gebraucht. Wir sind währenddessen in den Alltag zurückgeschlittert, haben mit Paulas Depression gelebt. Manchmal schlecht, manchmal sehr schlecht. Manchmal gut. Selten sehr gut. Das war okay. Für mich. Bis zu einem gewissen Grad. Jetzt ist die Genehmigung da. Was nun?
„Die Psychiaterin hat gesagt, solche Anträge würden erst einmal abgelehnt“, klagt Paula. „Und dann …“, Paulas Stimme ist jetzt ganz dünn, „schau mal, wo die mich hinschicken wollen: Die Postleitzahl fängt mit einer '3' an. Das ist ja 500 Kilometer weg von hier.“ Mein Hirn wabert in seiner Karkasse hin und her, meine Knie werden weich. „Wieso das denn?“, schwappt aus meinem Mund. Wie soll Paula das wissen! Die Frage ist völlig blöde; meine Ratlosigkeit kommt vielleicht gerade deshalb zum Ausdruck. „Die sechs Stunden Fahrt stecken mir in den Knochen“, lüge ich, „ lass uns das morgen besprechen!“

Ich muss mich sammeln. Paula auch: Sie wälzt sich die ganze Nacht hin und her.

Von den Stadtwerken bekommen wir übrigens 230 Euro zurück.
Den Tag des Zahnziehers feiert man in Brasilien.

Mittwoch, 14. August 2013

The Reputation Effect

870 870 57 – das ist die Nummer von Paulas Dienststelle in der Klinik. Jetzt blinkt sie auf dem Display, während das Telefon läutet. Scheiße!

Wir sitzen beim Frühstück. Kaffeeduft füllt den Raum. Der Kleine hat Brötchen geholt, die Sonne wirft einen goldenen Lichtkegel auf das Parkett. Der perfekte Start in einen schönen Familiensamstag. Paula starrt auf das Telefon. Sie zögert, die Gespräch-Annehmen-Taste zu drücken. Wir „Männer“ starren Paula an. Es ist jedes Mal dasselbe. Jedes Mal, wenn jemand aus der Klinik anruft.

Das erneute Läuten klingt wie der Zahnbohrer in „Der Marathonmann“. Kennten die Kinder den Film, würden sie das auch so hören. Das sehe ich ihren Gesichtern an. „Mama, nimm‘ nicht ab“, sagt der Große, „lass es sein!“ „Das entscheide ich immer noch selbst“, schnauzt Paula. Sie ist nervös. Ich verstehe den Jungen. Wie oft haben wir darüber gesprochen – eben Anrufe aus der Klinik zu ignorieren. Oder Paula gar zu verleugnen. Denn es ist immer dasselbe: Sie werden Paula fragen, ob sie heute einen Dienst übernehmen kann. Weil mal wieder jemand krank ist. Weil die Pflegedienstleitung mal wieder die Urlaubsplanung vergeigt hat. Weil die Schülerinnen gerade ihren Schulblock haben. Letztendlich weil die Spar- und Personalpolitik gnadenlos ist. Deshalb rufen sie aus der Klinik an.

Mir steigt die Galle hoch, die Kinder rutschen von einer Backe auf die andere. Noch einmal bohrt sich das Läuten ins Gehör. Paula meldet sich, geht ins Arbeitszimmer. Vielleicht, um Ruhe zu haben für das Telefonat. Vielleicht, damit wir nicht mitbekommen, was gesprochen wird. Oder vielleicht, damit Paula unsere fragenden, fordernden Blicke nicht aushalten muss.

Es ist immer dasselbe: Paula wird zusagen, den Dienst zu übernehmen. Weil sie keiner Kollegin zumuten möchte, eine Doppelschicht fahren zu müssen. Und weil die Patienten versorgt werden müssen. Selbstverständlich. Aber Paula hat mehr als 1.000 Überstunden angehäuft. Mit einer 50-%-Stelle! Paula wird sich mit versteinerter Miene an den Tisch setzen, kaum mehr ein Wort sagen, kaum etwas essen. Und sie wird den Kaffee kalt werden lassen. Die Kinder werden schweigend noch Nutella-Brötchen essen. Mir ist der Appetit längst vergangen. Ich werde eine Bemerkung über die Klinikleitung machen. Und eine darüber, dass man denen gegenüber Zeichen setzen sollte. Eine weitere darüber, was sich Paula denn noch alles zumuten möchte. Und eine letzte vielleicht über Paulas Prioritäten. Das reißt die Stimmung richtig nach unten. Der Samstag ist sowieso im Eimer.

Heute habe ich Post bekommen. Von meinem Chef. Persönlich von ihm übergeben. Mit ein paar gefälligen Worten. Die beiden Briefe habe ich auf den Nachttisch gelegt. Ich liege im Bett und warte auf Paula. Als sie sich neben mir in ihren Kissen und Decken arrangiert, reiche ich ihr die Chef-Post hinüber: „Heute gab’s noch zwei kleine Überraschungen.“ Paula liest, dass ich rückwirkend zum Monatsbeginn befördert wurde. Ich darf mich nun „Senior“ nennen. Dafür gibt es 8 % mehr Geld. Immerhin. Außerdem – das steht in dem zweiten Brief – bekomme ich einen Spot Bonus. Dafür, dass ich mit meinem Team dieses Monsterprojekt erfolgreich und termingerecht auf die Beine gestellt habe. „Ach Gott, mit 'Herzblut' hat es dein Chef aber“, kommentiert Paula in eigenartigem Ton. „Herzblut“ kommt in den beiden Briefen mindestens vier Mal vor. Es ist eines seiner Lieblingsworte und steht auch in unseren Unternehmensgrundsätzen. Paula legt die Briefe weg, wir knipsen die Lampen aus.

Paula kriecht recht zielstrebig unter meine Decke. Ihre Hände sind plötzlich überall, sie zieht mich aus. Dann sich selbst. Hals über Kopf ist sie über mir. Intensiv und heftig schlafen wir miteinander. Paula fällt auf das Laken zurück. Sie weint. Und das nicht vor Glück. Das kann ich hören. Meine Gedanken fahren Achterbahn. Ich frage: „Was ist denn?“. Paula gluckst und schluchzt noch ein paar Mal, bevor sie wütend antwortet: „Für deinen Spot Bonus müsste ich eine Woche lang extra arbeiten. Ist das nicht ungerecht? Ich reiße mir seit 25 Jahren den Arsch auf in dieser scheiß Klinik. Und was kriege ich dafür? Nur Stress und Ärger, Weicheierkollegen, die ständig krank sind, unfähige Vorgesetzte. Und die Überstunden kann ich im Leben nicht abfeiern.“ … Pause. Schluchzen … „Ich möchte auch mal Anerkennung für meine Leistung bekommen.“

„Und für mein Herzblut.“


Sonntag, 28. Juli 2013

Inhouse Management

Unruhiger Schlaf, das Bettzeug klebt: dampfende Schwüle in dieser Nacht. Die Strahlen der Morgensonne knallen durchs offene Fenster. Ich wälze mich hin und her, warte auf das Klingeln des Weckers. Obwohl ich später aufstehen könnte. Paula hat Frühdienst. Das penetrante Biip biip biip kommt. Und wirkt wie eine Erlösung. Paula lässt die Jalousie herunter, das grelle Licht bleibt draußen, aber die Temperatur steigt. Noch bevor ich das müsste, stehe ich auf. Wortlos und dumpf packe ich mich an den Frühstückstisch, schaffe es, mir einen Kaffee einzugießen, muss dann aber erst einmal den Kopf auf meine Hände stützen und mich sammeln. Leichter gesagt als getan. Paula schwirrt wie irre herum. Aus der Küche zum Esstisch. Mit den Vesperdosen für die Kinder. Dann wieder zurück. Mit dem … knister, knister, knister … Butterbrotpapier. Wieder an den Kühlschrank: Klapper, klapper, klapper mit den Gläsern und Dosen. Schwirr, schwirr, schwirr … hin und her, her und hin. Meine Finger krallen sich in meine morgendliche sommernachtsgetränkte Restfrisur. Ich lasse Zucker in den Kaffee rieseln, rühre um, ohne den Tassenrand mit dem Löffel zu berühren. Nur dieses Klingeling vermeiden! Paula sirrt wieder heran … klick, klack, klack … der Toaster! Ich kralle mich tiefer in meine Haare. Starre auf den Tisch, versuche in der Holzmaserung irgendwelche Figuren zu erkennen.

„Ach du Scheiße“, sagt Paula. Jetzt starre ich Paula an. Vermutlich glotze wie ein Huhn, wenn es donnert. „Ach du Scheiße, jetzt habe ich den Großen vergessen zu fragen, ob er noch Restgeld von gestern übrig hat“. Bei dem Huhn donnert es erneut. Ich lasse mich nach hinten an die Lehne fallen, werfe Paula einen Blick zu. Ein ratloses „Hä?“ hämmert mir an die Pia mater; aus meinem Mund kommt – unbewusst: „Wieso musst du ihn das f…“ Für einen Moment hört das Herumgeschwirre auf. Zumindest in meinem Kopf. Dann sagt Paula: „Kannst du ihn bitte fragen, ob er noch Geld übrig hat und wie viel. Kannst du dann bitte auf 14 Euro aufstocken. Die braucht er für den Ausflug am Donnerstag.“ Ich knurre ein verständnisvolles „Ja klar“, sofern sich ein Knurren eignet, Verständnis zu vermitteln.

Ich sehe zur Uhr. 6:20 Uhr. Um die Zeit klingelt normalerweise der Wecker für mich. Ich schaffe es, nach der Tasse Kaffee zu greifen und einen Schluck daraus zu nehmen. Paula rauscht ins Bad, Zähne putzen. Auf dem Weg zurück nach unten weckt sie den Großen. Sein alltägliches missmutiges Knurren bringt den Tag zurück zur Normalität.

Ich denke an Katja, eine Bekannte, die selbst von Depression betroffen ist. Sie hat mir neulich bestätigt: „Sie muss loslassen. Paula muss lernen, dass sie nicht alles machen bzw. schaffen muss. Auch wenn sie glaubt, dass ihre Reputation dadurch sinken würde. Das ist doch alles zu viel.“

Als der Kaffee anfängt zu wirken, dämmert mir, dass ich heute für das Abendessen zuständig bin. Selbstverständlich weil Paula Frühdienst hat. Und weil wir diese Aufteilung der Pflichten im Haushalt jetzt endlich konsequent umsetzen müssen: Für Oktober hat Paula die Zusage für die 75-%-Stelle bekommen. Das sind ungefähr fünf Dienste im Monat mehr als bisher. Heute also das Abendessen. Ich reiße mich nicht darum, aber so ist das nun mal mit den Pflichten. Fertig. 

Die Kinder sind zur Schule unterwegs; ich nehme ich ein kühles Duschbad, ziehe mich an und radle zum Supermarkt um die Ecke. Wie besprochen wird es heute Abend Vesper geben. Ich packe in die Baumwolltasche, worauf ich Lust habe. Alten Gouda, ein Stück Blauschimmelkäse, Wienerle für die Kinder, Salat, Tomaten – ach ja, ein Glas Saure Gurken. An der Wursttheke lasse ich mir noch ein Stück Schwarzwälder Speck geben. Zuhause packe ich das Zeug in den Kühlschrank, räume schnell die Küche auf, bevor ich ins Büro aufbreche. Der Tag verläuft – genau! – normal. Business as usual. Gegen 18:30 Uhr schwinge ich mich aufs Rad und fahre nach Hause. Auf dem Weg überlege ich mir, dass ich eigentlich ein paar feiste Rühreier machen könnte – mit dem Speck und ein paar Kräutern. Das mögen vor allem die Jungs. Okay also. Gebongt.

Als ich nach Hause komme, steht Paula in der Küche, schnippelt gerade die Tomaten. Die Salatblätter schwimmen schon im Wasser. Ich rausche an die Arbeitsplatte und zische: „Ich mach‘ das.“ Paula sieht mich an und fragt: „Wieso bist du denn schon wieder so sauer?“

Eine Antwort darauf bekommt sie nicht.


Sonntag, 14. Juli 2013

The Brandy Effect

Vergleiche die laufende Nummer des Originals, den Verfasser, die Angaben zur Publikation und die Seitenzahl mit den Angaben im neuen Kompendium und ordne alles der neuen laufenden Nummer in eben diesem Kompendium zu. Das ist die Aufgabenstellung, der ich mich zwischen 9:00 Uhr und 16:00 Uhr mit zwei Kolleginnen widme. Zu dritt gleichen wir Zahl um Zahl, Namen um Namen, eine verschwurbelte Abkürzung nach der anderen ab. Am Ende haben wir es zwar geschafft, aber die Augen brennen. Die Konzentration ist ebenso verdampft wie die gute Laune. Es ist Samstag. Der Höhepunkt der Arbeit für ein Projekt, das am Montag, 12:00 Uhr, online gehen muss. Noch 48 Stunden. Die Programmierer müssen eine, vielleicht zwei Nachtschichten einlegen. Schon wieder. Dieses Projekt schafft alle. Ich leite dieses Projekt. So bin auch ich geschafft. So sehr, dass ich kaum noch etwas sage – zu niemandem. So sehr, dass ich das Gefühl habe, ich morphte wie eine Amöbe im Wasser umher – ohne auch nur einen einzigen Zentimeter vom Fleck zu kommen. Ich denke über eine Druckbetankung nach. Mit einem guten gereiften Brandy vielleicht?

Die Nacht ist schwül. Unangenehm. Ich wälze mich lange hin und her. Meine Gedanken ebenfalls. Irgendwann blende ich das Projekt aus und denke an Paula, die friedlich neben mir schläft. Kuscheln wäre jetzt schön. Ich schlüpfe unter ihre Decke. Ich fange an, sie zu streicheln. Mehr als kuscheln wäre noch schöner (eine dieser vermutlich „typisch männlichen“ Abreagier-Reaktionen). Das merkt Paula, legt ihre Hand auf meine, lenkt sie sanft dorthin, wo sie sie am liebsten spürt. Für zwei ist es unter der Decke definitiv zu warm. Das merken wir beide. Das Projekt schlägt wieder durch, ich falle in die Amöbenhaftigkeit zurück und in eine unruhig dampfende Dämmerung. Ich verliere das Zeitgefühl. Als ich wieder wach werde, streichelt Paula mich. Ihr Arm klebt ganz buchstäblich über meiner Hüfte. Ihre Bewegungen stottern auf meiner Haut wie ein Radiergummi, das man aufgerichtet über ein Papier schiebt. Paula will; ich will. Irgendwie. Der Wecker schrillt. Wir sind beide genervt. Von der Hitze. Vom Projekt. Ich bin unausgeschlafen, der Arbeitstag dauert wieder zwölf Stunden. Nach dem Abendessen denke ich an den Brandy.

Paulas Wollen bleibt, mein Wollen bleibt. Es liegt in der Luft, die heute sehr angenehm frisch ist. Vor allem jetzt, da die Sonne untergangen ist. Paula hat Chorprobe. Die Kinder schlafen. Seit einer Stunde schon. Paula kommt und kommt nicht nach Hause. Ich verziehe mich ins Bett. Schalte das Radio ein. Das Gedudel und Gelabere geht mir auf den Geist. Ich schalte ab. Sowohl das Radio, als auch mich selbst. Plötzlich werde ich wach. Paula hat mir die Decke weggezogen. Jetzt schiebt, nein zerrt, sie mir das T-Shirt über den Kopf. Im nächsten Moment ist mein Slip fällig. Liege ich eben noch auf der Seite, zwingt mich Paula jetzt auf den Rücken. Sie legt sich quer über mich, fixiert meine Hüfte. Mit sehr harter Hand geht sie zur Sache. Ich reagiere ebenso hart. Paulas Lippen sind weich und heiß. Das Testosteron donnert durch meinen Körper wie die Feuerwalze durch die U-Bahnröhre im Actionfilm. Nur, dass am Ende nicht Will Smith, Denzel Washington oder Bruce Willis herausgeschleudert werden …

Paula lässt sich neben mich fallen, die harte Hand immer noch im Zentrum des Geschehens, ihre Lippen ganz nah an meinem Ohr. „Jetzt will ich deine Lippen spüren“, flüstert sie leise aber fordernd. 

Ihr Atem säuselt herüber. Er riecht nach mir. Und stärker noch – ich kenne Paula! – nach Campari Orange.


Freitag, 12. Juli 2013

Unterschied - ja oder nein?

„Es geht nur um dich. Immer, immer, immer nur um dich, Paul! Ich habe zu funktionieren: Waschen, putzen, einkaufen, kochen, ficken. Stets wann und wie es dem Herrn belieben. Was ich will, interessiert dich nicht. Nein, statt vielleicht mal den Rasen zu mähen, musst du zum Einkaufen in die Stadt fahren. Die Sachen hättest du auch im Supermarkt hier um die Ecke bekommen. Und dann klemmst du dich hinter die Zeitung. Ob die Hausaufgaben erledigt sind, scheint dich ja nicht zu interessieren. Da kann ich mich dann auch noch drum kümmern. Und du bist ja auch nicht da, wenn diese Tante von der Bank anruft, um uns wieder irgendwas aufzuschwätzen. Du hängst ja lieber bis um halb sieben im Büro rum. Du kriegst nicht mit, dass Frau Zander will, dass wir die alten Blumenkästen an der Loggia runternehmen. Weil sie mal wieder Panik schiebt, die Dinger könnten abstürzen. Wer hat’s wieder mal gemacht? Ich, verstehst du – ich! Ich, ich ich. Die Englischlehrerin nervt auch ständig, weil der Kleine so einen Leistungsabfall hat. Ich hab’s so satt. Nicht ein einziges Mal hast du gefragt, was bei der Personalversammlung rauskam. Ob das mit der Autowerkstatt geklappt hat. Meine Mutter ist dir ja eh seit Monaten egal. Kein Wort darüber, wie es mir vielleicht geht. Wie ich mich fühle. Du weißt nicht mal, dass ich einen Termin bei der neuen Psychotherapeutin hatte. Geschweige denn, was dabei rauskam. Aber klar – du gehst ja lieber mit deinem Kumpel in die Kneipe. Es geht echt nur noch um dich.“

„Ja Paula, ja: Es geht nur um mich. Jedenfalls im Moment. Was denkst du eigentlich, was gerade in mir abgeht? Sicher, sicher, es ist nicht Depression. Trotzdem muss ich mein Leben irgendwie neu sortieren, liebgewonnene Gewohnheiten aufgeben, den Alltag außerhalb dieses Hauses anders organisieren. Und das für den Rest meines Lebens. Ohne Ausnahme. Das muss alles erst mal richtig in meinem Kopf ankommen. Verstehst du das? Weißt du, was mich momentan am meisten nervt: Du sitzt hier und jammerst mir einen vor. Du forderst von mir Verständnis, Rücksichtnahme und Empathie – oh, Mann, ich kann es echt nicht mehr hören. Aber du, was bringst du? Was gibst du mir? Was hast du gerade für mich übrig? Ich habe mich kein einziges Mal beklagt seither. Weil es ist, wie es ist. Punkt. Ich habe es mir nicht ausgesucht. Und ich kann es nicht ändern ... halt, halt, halt … lass‘ mich ausreden! Du hast dir deine Depression auch nicht ausgesucht – das weiß ich. Ändern kann man gegenwärtig daran auch nichts. Aber du wirst ja wohl einsehen, dass du von mir genau das forderst, was du mir nicht gibst. Sorry, geben kannst.

So, mehr will ich jetzt nicht dazu sagen. Die blöden Blumenkästen kann die alte Zander beim nächsten Mal übrigens selbst abhängen. Sind schließlich ihre. Mann, Mann, Mann.“

Es ist Sonntagmorgen. Wir sind noch nicht einmal aufgestanden. Vor sechs Wochen habe ich die Diagnose Zöliakie bekommen.

Samstag, 29. Juni 2013

Befindlichkeiten

Von Mae West – Hollywood-Diva und Femme Fatale der 1930er Jahre – wird diese Geschichte kolportiert: Nach einem Auftritt folgen ihr einhundert junge Männer bis vor ihre Villa. Oben auf der Eingangstreppe wendet sie sich an die „hungrige Meute“: „Hey Guys, ich habe Migräne. Leider muss einer von euch nach Hause gehen."

Entledigte sich La West angeblich mit dieser stereotypischen Begründung eines Liebhabers von einhundert, hat Paula in 99 von einhundert Fällen ähnliche Erklärungen parat, ein Schäferstündchen abzuwenden. Und das meist schon frühzeitig präventiv. So empfinde ich das. Leider allzu oft. Die Palette reicht von eben Migräne oder Kopfweh, über das Iliosakralgelenk nach dem Joggen oder verkrampfte Waden, bis zu Vitaminmangel oder schlimmstenfalls Flatulenz. Dieses Feuer im ehelichen Krisenherd glimmt ständig. Paula und ich, wir wissen beide um das unausgewogene Wollen-/Könnenverhältnis. Das schafft Raum für fehlgeleitete Interpretationen des Verhaltens des jeweils anderen. Und erhöht das Konfliktrisiko.

Es ist bereits 3:30 Uhr. Mitten in der Nacht. Paula und ich kommen nach Hause. Mit Freunden und Kollegen haben wir Party gemacht. Ordentlich Party. Die Knochen tun (vermutlich uns beiden) weh, mir auch noch der Schädel. Trotzdem habe ich mächtig Lust auf Paula. Wir packen uns ins Bett, unter eine Decke, meine Hände dringen in zwar bekanntes, jedoch immer wieder reizvolles Körperterrain vor. Die Lider liegen schwer auf den Augäpfeln, die horizontale Lage entspannt mich. Sehr sogar. Zu sehr. Ganz. Ich schlafe ein. 

Irgendwann fordern Alkoholgenuss und die ausgleichende Aufnahme von Flüssigkeit in Form von Apfelschorle Tribut. Ich schleiche zur Toilette, Paula wird wach, Paula geht zur Toilette. Danach gehen meine Hände wieder auf Entdeckungstour. Bei mir löst die entspannende Horizontale nun eine Schwellung aus. Paula schläft ein. 

Jetzt ist es kurz vor 9:00 Uhr. Durch das offene Fenster kommt sommerliches Licht herein. Und der rurale Pollenmix. Paula und ich sind wach. Paula schnieft. Unsere Lust ist geblieben. Wir kommen wieder unter einer Decke zusammen, unsere Forscherhände unter unserer Wäsche. Paula hat eine davon in meinem Slip. Der horizontalbedingte Entspannungseffekt doppelt sich. Plötzlich lässt Paula von mir ab. Sie richtet sich auf, zieht den Pollengeschwängerten Nasenschleim hörbar nach oben. Sie fängt an, wie wild auf und in ihrem Nachttisch herumzuwühlen. Sie sucht etwas. Sie findet es nicht. Sie rotzt weiter. Es vergehen ein paar Minuten, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkommen. Paula sucht jetzt unter dem Bett. Dumpf dringt ihr ungehaltenes Gebrabbel zu mir: „Wo ist diese Packung Tempos? Hat die jemand weg? Mann, Mist.“ Und wieder fährt Schleim Nasenaufzug. Sie macht Anstalten, aufzustehen, um ins Bad zu gehen. Ich drehe mich um. Zur anderen Seite. Paula kommt wieder, legt sich hinter mich und ihre Hand auf meine Hüfte. Dort regt sich nichts mehr. „Bist du jetzt sauer?“, fragt Paula. Ich hole tief Luft, sehr tief: „Schon ziemlich abtörnend so was“.

Wir streiten uns fast eine Stunde lang. Zunächst über „so was“, dann über Erwartungen und schließlich über die Unfähigkeit, den jeweils anderen auch nur ansatzweise verstehen, respektieren oder akzeptieren zu können.

Samstag, 22. Juni 2013

Der halbe Liter - Teil 2: Präventivmaßnahme

Paula kreischt, schreit, brüllt, springt auf, hopst auf und ab. Ich erstarre, Salat und Besteck fallen mir aus der Hand, ich stiere erschrocken und fassungslos in die Szenerie. Ein halber Liter Multivitaminsaftschorle haben sich über die Tischkante auf Paulas Hose und Stuhl, über den Sisalteppich und über ca. zwei Quadratmeter des Parketts ergossen. Paulas Stimme überschlägt sich, kippt ins Hysterische. Der Junge weint. Ich reiße mir das schweißgetränkte Handtuch vom Nacken, schleudere es Paula entgegen und brülle: „Jetzt mal halblang, es ist nur Saft!“ Paula jault jetzt eher, als das sie artikuliert. Ich tippe auf einen kurzen heftigen Exkurs über Karotin, das man nicht mehr aus dem Teppich bekäme. Den Rest verstehe ich nicht mehr. Paula hat sich zu Boden gestürzt und rubbelt wie wild auf dem Saftfleck herum. „Mann, Mann, Mann“, stoße ich hervor. Das versteht Paula (mit Recht?) als Verbalattacke gegen sich. Sie knallt das nun zusätzlich mit Saft versaute Handtuch auf den Boden, rennt nach oben. „Verdammte Scheiße, wie oft habe ich euch Kindern gesagt, ihr sollt die Gläser oberhalb der Teller hinstellen und nicht rechts oder links davon?“, plärrt sie dem Jungen von der halben Treppe aus entgegen. Der schluchzt nur noch. Paula ballert weiter: „Ich will auch mal einen Abend entspannt zuhause sein. Ich will auch mal nicht einkaufen müssen nach dem Dienst. Ich will mich auch einmal nur an den gedeckten Tisch setzen. Ich hätte auch gerne mal um sieben Uhr gegessen!“


Ich spüre, dass ich jetzt gleich explodiere. Das wäre normal. Wie dieser Donnerstag eben. 

Aber ich halte mich zurück. Paula hat mehrere Tage hintereinander Dienst gehabt. Sie ist sehr angespannt, sie hat in den letzten Nächten sehr schlecht geschlafen. Ich möchte nichts lieber, als sie jetzt mal so richtig anmotzen, eine Erklärung von ihr zu fordern. Eine Erklärung dafür, was die Schusseligkeit unseres Kindes damit zu tun hätte, dass sie … tä, tä, tä … auch mal um sieben Uhr hätte essen wollen. Ich möchte sie am liebsten in überspitzt zynischem Ton fragen, warum sie denn nicht einfach um sieben Uhr isst, wenn sie doch – ganz normalerweise SCHON – um acht Uhr Chorprobe hat. Ich würde schließlich nicht erwarten, dass sie auf mich wartet. Ich nicht. Ganz bestimmt nicht. (Das stimmt übrigens! Ich wünsche mir oft, dass sie das tut. So könnten viele Streitigkeiten vermieden werden.)

Ich halte mich zurück. Denn am Samstag sind wir zu einem der edelsten und hochkarätigsten Bälle der Region eingeladen. Einer meiner (Geschäfts)freunde möchte sich dafür bedanken, dass ich ihn vor vier Jahren als Lieferanten für die Agentur verpflichtet habe und er nun sehr respektablen Umsatz mit uns macht. Ich möchte, dass Paula und ich angemessen entspannt und stimmig gelaunt dort hingehen. Aufregungen, Streitigkeiten, Zerwürfnisse, die nicht mehr geklärt werden können, vergiften die Atmosphäre. Also versuche ich Eklats zu vermeiden. Leider hat der Junge jetzt das Weizenbierglas umgestoßen. Ich bin sauer. Meine schöne Taktik ist schlicht – sorry – am Arsch. Ich kacke den Jungen an.

Als Paula zur Chorprobe gegangen ist, gehe ich nach oben, klopfe an die Zimmertür und bitte ihn, aufzumachen. Er kommt heraus, sieht mich mit verheulten Augen an. Ich schlage ihm vor, gemeinsam zu versuchen, den Saftfleck auf dem Teppich zu bearbeiten. Vielleicht sei ja doch noch etwas zu retten. Mit einer Lauge aus Wollwaschmittel und lauwarmem Wasser, einer frischen Wurzelbürste, einem Autoschwamm und zwei alten Handtüchern beackern wir den Teppich. Volle zwanzig Minuten lang. Wir legen weitere Handtücher und alte Zeitung darunter, damit alles besser trocknen kann.

Danach essen wir zusammen ein Stück Pizza. Ich eines mit Ziegenkäse, der Junge eines mit Salami. Ich denke, es schmeckt uns.

(Epilog: Der Teppich ist spitzenmäßig geworden! Sogar all die anderen alten Flecken sind rausgegangen. Paula hat sich, wenngleich etwas verhalten, gefreut darüber.)


Der halbe Liter - Teil 1: Der Zusammenhang der Dinge

Ein ganz normaler Donnerstag. Das kann man lächelnd positiv meinen oder sarkastisch negativ. Paula hat heute um acht Uhr Chorprobe. Das ist normal. Das weiß ich. Ich weiß auch, dass sie es nicht so gerne hat, davor bis ultimo beim Abendessen zu sitzen. Ich sollte also um sieben Uhr zuhause sein. Das will ich auch. Klappt aber nicht. Ein Kunde ruft mich an und quasselt mir ein Ohr ab. Ich laufe erst um zwanzig nach sieben ein. Das Essen steht schon auf dem Tisch. Paula fordert den Jüngsten auf, sich an den Tisch zu setzen (der Ältere ist auf Klassenfahrt). Mir tropft der Schweiß über Gesicht, Arme und den Rücken hinunter. Es ist heiß, ich bin wie ein Verrückter geradelt. Mir bleiben zwei Minuten, um nach oben zu rennen, ein Handtuch zu holen, um zu verhindern, dass ich in das Essen triefe.

Die Pizza sieht sehr lecker aus. Es gibt zwei Sorten: eine mit Ziegenkäse, Oliven und Schinken, die andere mit Salami, Tomaten und „normalem“ Käse. Ich nehme die mit Ziegenkäse. Der Junge gießt sich Multivitaminsaft in ein Weizenbierglas bis es halb voll ist. Den Rest füllt er mit Mineralwasser auf. Ich angle mir die Salatschüssel, mische nochmal durch. Dann … Dann passiert etwas, das sich anhört und aussieht, als hätte jemand Annie Wilkes (Kathy Bates in dem Film „Misery“) erst unter Drogen und dann unter Strom gesetzt:

Paula kreischt, schreit, brüllt, springt auf, hopst auf und ab. Ich erstarre, Salat und Besteck fallen mir aus der Hand, ich stiere erschrocken und fassungslos in die Szenerie. Ein halber Liter Multivitaminsaftschorle hat sich über die Tischkante auf Paulas Hose und Stuhl, über den Sisalteppich und über ca. zwei Quadratmeter des Parketts ergossen. Paulas Stimme überschlägt sich, kippt ins Hysterische. Der Junge weint. Ich reiße mir das schweißgetränkte Handtuch vom Nacken, schleudere es Paula entgegen und brülle: „Jetzt mal halblang, es ist nur Saft!“ Paula jault jetzt eher, als das sie artikuliert. Ich tippe auf einen kurzen heftigen Exkurs über Karotin, das man nicht mehr aus dem Teppich bekäme. Den Rest verstehe ich nicht mehr. Paula hat sich zu Boden gestürzt und rubbelt wie wild auf dem Saftfleck herum. „Mann, Mann, Mann“, stoße ich hervor. Das versteht Paula (mit Recht?) als Verbalattacke gegen sich. Sie knallt das nun zusätzlich mit Saft versaute Handtuch auf den Boden, rennt nach oben. „Verdammte Scheiße, wie oft habe ich euch Kindern gesagt, ihr sollt die Gläser oberhalb der Teller hinstellen und nicht rechts oder links davon?“, plärrt sie dem Jungen von halber Treppenhöhe aus entgegen. Der schluchzt nur noch. Paula ballert weiter: „Ich will auch mal einen Abend entspannt zuhause verbringen. Ich will auch mal nicht einkaufen müssen nach dem Dienst. Ich will mich auch einmal nur an den gedeckten Tisch setzen. Ich hätte auch gerne mal um sieben Uhr gegessen!“

Ich spüre, dass ich jetzt gleich explodiere. Das wäre normal. Wie dieser Donnerstag eben. Aber ich weiß, wie es um Paula steht. Vor allem, wenn sie mehrere Tage hintereinander Dienst hatte. Ich kralle meine Hände in das Sitzkissen, sehe nach unten, hole tief Luft. In mir kocht es. „Was hat das eine mit dem anderen zu tun?“ Ich stelle diese Frage nicht. Ich denke sie nur. Stattdessen kacke ich den Jungen an – er könne sich ja auch mal ein einziges Wort der Entschuldigung aus seinem Sturschädel quälen. Weinend rennt er an Paula vorbei nach oben, knallt seine Zimmertür zu und schließt ab. Paula zieht sich weiter vor sich hin fluchend um.

Ich habe keine Lust auf Salat. Und die Pizza schmeckt auch nicht mehr.



Freitag, 14. Juni 2013

Lebenssphären

Meter, Kilometer oder Meilen? Jahre, Dekaden, Jahrhunderte gar? Wie auch immer, Paula und ich sind weit voneinander entfernt. Sehr weit.

Es ist zwischen fünf und sechs Uhr morgens. Es wird bereits hell. Es regnet, ich sitze auf meinem Fahrrad und trete in die Pedale als gäbe es kein Morgen mehr. Der Regen macht mir nichts aus, nein. Ich will nach Hause, einfach nach Hause. Vor einer halben Stunde habe ich meinen „Gig“ als DJ auf der Hochzeit einer Kollegin zu Ende gebracht. Seit 23:00 Uhr stand ich an den Reglern, habe den Laden gerockt. Definitiv. Das steckt mir jetzt in den Kochen. Ebenso wie die vier Bier und die – geschätzten – fünf Cola-Rum. Ich komme bestens voran. Und ich wälze Gedanken, während ich den Vögeln bei ihrem Morgenkonzert zuhöre.

Die Braut, meine Kollegin, und ihr Bräutigam – besser gesagt zu diesem Zeitpunkt bereits: meine Kollegin Rita und ihr Mann Udo – hängen verliebt und (vermutlich ebenso) betrunken aneinander, knutschen was das Zeug hält, lassen lasziv ihre Hüften zur Musik kreisen. Udos Hemd hängt schon seit Stunden aus der Hose, der Schulterträger von Ritas Kleid rutscht herunter. Ich lege „Soldier of Love“ von Sade auf. Jetzt kommt erst richtig Schwüle auf, Rita und Udo kippen fast um, Udo packt seiner Frischvermählten mit beiden Händen an die Hinterbacken. Ich frage mich, ob sie „es“ jetzt gleich hier tun oder ob sie es wenigstens noch bis zum Schuppen schaffen. Alkohol hin oder her, das Glück, das Begehren und die Ausgelassenheit der beiden ist so präsent, so greifbar, so echt.

Paula und ich haben so etwas nie erlebt. Oder nie gelebt. Vielleicht konnten wir es nicht leben. Als wir zusammenkamen, war Paulas ältere Tochter schon sieben Jahre alt. Wir konnten nicht zusammen ausgehen wie etwa Rita und Udo. Paula hat sich nie so viel aus den Clubabenden gemacht wie die anderen aus der Clique, die zunächst einmal meine Clique war. Paula konnte den absoluten Albernheiten, die meine Freunde und ich abgezogen haben, nie etwas abgewinnen. Noch heute rollt sie die Augen nach oben, wenn die alten Zoten kolportiert werden. Bis zur Oberkante Unterlippe saufen hat Paula nie gemacht. Sie hatte früh Verantwortung für ihre Tochter.

Rita und Udo haben erst zusammen gewohnt, bevor sie ein Kind hatten. Sie hatten ihre Zweisamkeit, haben sich arrangiert, zusammengerauft und ein gemeinsames Regelwerk entwickelt. Erst dann haben sie eine Familie gegründet. Paula und ich waren nie allein. Lilith, Paulas Tochter, war immer dabei. Sicher, nicht immer physisch anwesend, aber da. Ein Regelwerk gab es auch: das von Paula und Lilith. Meine Ideen und Vorstellungen hier zu integrieren – schier unmöglich. 

Nur noch ein paar Hundert Meter bis nach Hause, die Jacke hat ihre Funktion aufgegeben, das Regenwasser rinnt mir die Unterarme hinunter. Ich schmunzle über das Geschnatter der Amseln und freue mich auf die Dusche. Habe ich Paula je in der Öffentlichkeit knutschend und hüftkreisend mit voller Pranke an den Po gefasst? Ich erinnere mich nicht. Hätte sie es überhaupt zugelassen? Ich habe die 20 Kilometer in weniger als 45 Minuten geschafft. Ich fühle mich sauwohl. Die Party war der Hit; ich habe das Brautpaar nicht enttäuscht. (Das war zuvor meine größte Sorge.) Als ich vom Rad steige, kriege ich fast Wadenkrämpfe. Ich denke: „Auf, auf alter Mann, mal sehen, was du an diesem Morgen noch zustande bringst!“

Oben angekommen streune ich ein bisschen durch die Wohnung – zum abdampfen. Dann nehme ich eine Dusche. Nicht sehr heiß, ich will nicht gleich wieder in die Bettwäsche saften. Eine Stunde später kommt Paula von der Nachtschicht nach Hause. Sie setzt sich kurz auf die Bettkante, stellt den Wecker. Vermutlich noch in der Abwärtsbewegung schläft sie ein. Ich sehe sie an, höre ihr tiefes Atmen. Sie liegt nur eine Armlänge von mir entfernt.

Und doch Sphären von mir weg.


Samstag, 18. Mai 2013

Priorität: Frischkäsetorte

Sie merkt es gar nicht mehr. Es – sorry, wenn ich schon wieder damit anfange, aber für mich ist es derzeit ein so drängendes Thema (wenn nicht Problem) – es, das heißt Zärtlichkeit oder Sex. Paula merkt es nicht mehr. Jegliche Sensoren, jede Wahrnehmung dafür sind verloren, verschüttet, ausgeschaltet. Jedenfalls glaube ich das. Auch wenn sie mir ständig vorhält, diese drei Pfui-Lettern stünden mir auf der Stirn. Wahlweise eingebrannt oder in Leuchtschrift. Ich kann (leider) nicht nachfühlen, wie es ist, wenn die Fleischeslust erlischt. Oder bereits erloschen ist. Weil meine eben brennt. Ziemlich sogar (auch: leider).

Heute Morgen im Bett legt Paula einen Arm um mich. Das erste Mal seit vier, nein, seit fast fünf, Wochen. Natürlich schwellen Hoffnung und Lende sofort. Aber – boshaft gesagt: mittlerweile ebenso natürlich – bleibe ich gleichermaßen vorsichtig wie skeptisch. Nur nichts falsch machen. Im Klartext: Zuallererst Paula nicht unter Druck setzen. Herausfinden, was sie will. Ob sie es will. Meine Skepsis ist berechtigt. Denn es passiert nichts. Nada, niente. Außer dass Paula ständig mit Arm und Hand zuckt. Ich glaube, Mediziner sagen „Restless-legs-syndrom“ dazu. Jede einzelne Bewegung elektrisiert mich. Paula merkt das nicht. Definitiv nicht. Denn sie ist wieder eingeschlafen. Das muss nicht viel bedeuten, sie schläft immer schnell ein. Jedoch nicht immer tief. Ich schiebe mich an sie heran, lege meine Hand auf ihren Arm, bewege mich, ändere die Liegeposition einige Male. Paula merkt es nicht. Oder sie lässt sich nichts anmerken.

Ich schiebe mich weiter an sie heran, lasse das Becken ein bisschen kreisen, hole tief Luft. Paula zieht ihren Arm zurück, legt sich auf den Rücken, verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Schläfrig murmelt sie, der Wein sei ihr gestern Abend wohl nicht bekommen. Das „Wieder-nichts“-Fähnchen wedelt vor meinem inneren Auge herum. Ich veratme meine Erektion. Übung macht den Meister: Das schaffe ich mittlerweile in wenigen Minuten. Ebenso zügig kommt mir dafür jetzt die Galle hoch. Ich entziehe mich Paulas Umarmung, mumifiziere mich unter meiner Decke. Ich starre einige Zeit in die aufkeimende Helligkeit des Morgens. Dann schaue ich nach der Uhrzeit: Viertel vor acht. Zu früh zum Aufstehen. Eigentlich. Doch die Galle ist derart bitter, dass ich mich auf die Bettkante setze. Das (nun wieder) merkt Paula: „Willst etwa du Brötchen holen?“, fragt sie mit deutlicher Betonung auf dem „du“. Das macht sie, weil ich seit ein paar Wochen mit der Diagnose Zöliakie lebe(n muss) und keine glutenhaltigen Dinge, also auch keine „normalen“ Brötchen mehr essen kann. Ausgesucht patzig antworte ich, dass ich jetzt erst mal aufstünde und dusche. Wir würden dann schon sehen, wer Brötchen hole. Nun merkt Paula etwas. Glaube ich. Sie steht auch auf und nuschelt, so könne es eventuell besser werden.

Während des Frühstücks – Paula hat die Brötchen geholt – wird es tatsächlich besser. Wir haben für eine Woche Besuch. Die schwelenden Probleme und Zerwürfnisse lassen wir uns einerseits nicht anmerken, andererseits entspannt die lockere Erzählatmosphäre die Situation tatsächlich. Alle zusammen schmieden wir Pläne für das Abendessen, ich schreibe den Einkaufszettel, die Besucher brechen zu einem Ausflug, Paula und ich zum gemeinsamen Einkauf auf. Das macht Spaß, wahrscheinlich auch deshalb, weil wir immer noch kindlich-neugierig die Supermarkt- und Reformhausregale nach glutenfreien Produkten durchstöbern. Meine Hoffnung schwillt wieder. Die Lende noch nicht. Schließlich stehen wir noch an der Kasse.

Wir kommen nach Hause, die Kinder spielen Wikingerschach im Garten. Wir schleppen die Einkäufe nach oben. Paula verräumt die Getränke, ich das Obst. Ich finde, die Stimmung ist gut. Gut genug, um mich ganz dicht neben Paula zu stellen, meinen Kopf auf ihre Schulter zu legen, ihren Po zu streicheln. Ich kann hören, wie die Kinder eine neue Partie beginnen. Jetzt schwillt auch wieder meine Lende. Paula dreht sich um. In die "falsche“ Richtung (wieder einmal: leider). „So, dann mache ich mal die Frischkäsetorte. Wo hast du die Erdbeeren hin?“.

Ich presse „in den Kühlschrank“ heraus, gehe nach oben und schreibe diesen Text.


Donnerstag, 2. Mai 2013

Verlassen

Mal wieder habe ich Lust auf Paula. Oder immer noch. Auf jeden Fall den ganzen Tag schon. Wir sind mit den Kindern draußen. Inliner- respektive Radfahren. Und Basketballspielen – ich mit den Jungs. Wir spielen 2:1: Wer einen Korb wirft, muss gegen die beiden anderen antreten, bis einer trifft. Im fliegenden Wechsel auf einen Korb. Ich habe keine Chance mehr gegen die beiden. Am Ende steht es 82 : 60 : 18. Ich schäme mich kein bisschen. Es macht einfach nur Spaß. Paula lungert derweil in der Sonne. Sie hat die Inliner und die Socken ausgezogen. Die Arme verschränkt sie hinter dem Kopf, ihr Nabel ist zu sehen. Einfach nur sexy. Ich gucke dauernd rüber. Vielleicht schaffe ich deshalb nur 18 Punkte. Gegen halb vier lockt sie uns mit „Kaffee und Biskuitrolle mit Erdbeeren!“ Nach dem Kaffeekränzchen besucht Paula ihre Mutter im Pflegeheim. Am Abend gibt es Badische Rahmschnitzel und danach einen alten spannenden „Tatort“.

Im Bett wird es später auch spannend: Paula macht nur Sekunden nach mir ihre Leselampe aus. Sie schmiegt sich an mich. Ich nehme ihr Gesicht zwischen meine beiden Hände, streichle sie zärtlich, küsse ihre Wangen. Sie spannt sich an. Ich spüre, dass sie meine Nähe sucht und gleichzeitig fürchtet. Ich spüre ihr Unwohlsein. Und fühle mich selbst unwohl. Fühle mich wie ein 14-Jähriger beim ersten Tête-a-tête. Ich lehne meine Stirn an Paulas und flüstere: „Ich weiß nicht mehr, was du schön findest.“ Paula antwortet: „Aber es ist doch ganz einfach, Paul. Es ist so einfach.“ Diese Antwort diffundiert wie eine Lokalanästhesie in mein Gewebe, ergreift Besitz von mir. Bis sie in meinem Großhirn ankommt. Dann werde ich pampig: „Wenn es einfach wäre, würde ich nicht fragen. Für mich ist es nicht einfach. Aber vielleicht bin ich zu doof, zu blockiert oder zu stoffelig, es zu begreifen.“

„Paul, sagt Paula, „Line schafft es doch auch, mich zweimal am Tag anzurufen und zu fragen wie es mir geht. Während du nur rumgeisterst mit dieser Leuchtschrift ‚Ich will Sex‘ auf der Stirn.“ „Ach, in Leuchtschrift ist es jetzt schon, ja? Neulich war es nur ein Schild …“, möchte ich am liebsten sagen. Ich kriege eben noch die Kurve und presse ein angesäuertes „Weil ich nicht Line bin. Und Line nicht ich“, heraus. Und: „Ja, natürlich spielt bei mir, bei uns Sex eine Rolle. Ich bin dein Mann und nicht deine beste Freundin.“ Paula presst auch etwas heraus, allerdings unter Tränen: „Ich verstehe, dass du unsere Beziehung unter anderen Voraussetzungen eingegangen bist. Nun hat es sich so entwickelt, wie es ist. Wenn es zu schwer oder unmöglich für dich ist, das zu leisten, was ich brauche, dann muss ich das wissen. Ich brauche Verlässlichkeit. Mit allen Konsequenzen. Und das ist dann auch okay.“ Ich schlucke. Die Gretchenfrage ist damit in den Raum gestellt. Jetzt nur keine spontane unüberlegte Antwort. Beantworten muss ich die Frage trotzdem. Nicht Paula! Sondern zunächst mir selbst.

Der Rest der Nacht ist fürchterlich: Wie lange noch kann ich es noch aushalten, gefühlte 100 % in das Gelingen unserer Beziehung mit der Depression zu investieren, aber nur gefühlte 0 % rauszubekommen? Kann ein Mensch/Mann/ich so etwas aushalten? Will ich es (überhaupt noch) aushalten? Bin ich bereit, meine – stereotypisch – „besten Jahre“ damit verbringen, Paula selbstlos zu helfen, anstatt diese Jahre auszuleben? Wie wäre es, wenn wir keine Kinder hätten? Sind wir nur noch wegen der Kinder zusammen? Richte ich mir Morgen das Gästezimmer als meine kleine Insel im schwarzen Meer ein? Wäre – Konjunktiv: wäre – eine Affäre ein probates Mittel, wenigstens die Hormonwogen zu glätten? Soll ich versuchen, einen neuen Job zu bekommen – Teilzeit bei mindestens gleichem Einkommen? Ist das alles realistisch? Geht es mir wie allen anderen Angehörigen Depressionskranker? Oder bin ich einfach ein Arsch?

Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr.


Mittwoch, 1. Mai 2013

Leben wie Uxbal

Champion’s League Halbfinale. Die Jungs sind mit meinem Schwiegervater in der „Sky“-Kneipe am Tennisplatz. Paula ist auch dort, kommt aber nach Hause, sobald ihr Vater dort eingetrudelt ist. So steht es  auf dem Zettel an der Garderobe. „Super“ denke ich, „muss ich nicht schon wieder das exaltierte Stadiongejohle der Jugend ertragen“. War ein bisschen viel Fußball für meinen Geschmack in den letzten Wochen. Und: „Bis elf Uhr bin ich ja dann mit Paula alleine!“ Wir hatten seit exakt vier Wochen keinen körperlichen Kontakt mehr. Das weiß ich genau und trotzdem zähle ich die Tage auf dem Kalender nach … 29, 30, 31 … Okay, dann und wann ein Küsschen des Morgens zum Abschied. Mehr nicht. Das Kloster in unserer bescheidenen Hütte.

Paula kommt nach Hause. Ihre Laune ist angesichts der Vorkommnisse der letzten Wochen recht passabel. Sie kocht; ich decke den Tisch. Schon das fühlt sich komisch an. Sonst machen das die Kinder. Während des Essens sitzen wir uns alleine gegenüber. Noch komischer. Wir sprechen über die heutige Zahnoperation von Paulas pflegebedürftiger Mutter und darüber, dass wohl alles gut gegangen ist. Ein bisschen lästern wir dann über den Fußballabend unserer Kinder mit Opa. Unüblich spät sind wir mit dem Abendessen zu Ende. Das Fernsehhauptprogramm hat längst begonnen. Von den ungeöffneten DVDs nehmen wir „Biutiful“ mit dem wieder einmal unvergleichlich grandiosen Javier Bardem. Wir kennen den Film nicht:

Uxbal, ein kleiner Ganove, versucht mehr schlecht als recht, sich und seine beiden Kinder im Sumpf von Barcelonas Halbwelt über Wasser zu halten. Seine Frau Marambra ist manisch depressiv. So sehr sich Uxbal auch anstrengt, eine zumindest akzeptable Zukunft aufzubauen, das Leben jagt ihn von einer Katastrophe in die nächste: Der Straßenhändlerring, von dem er Provisionen kassiert, wird zerschlagen, die chinesischen Billigarbeiter, die er an Bauunternehmer vermittelt, sterben allesamt bei einem von ihm verschuldeten Unfall. Und: Er ist unheilbar krank – „mit gezielten Chemotherapien können wir ihren jetzigen Zustand einige Monate stabil halten“ sagt der schmierige Arzt. Von Minute zu Minute werden Paula und ich stiller. Zu viele Parallelen zu unserem eigenen Leben: Zwei Kinder, Kohle knapp, Depression, die Katastrophen des Alltags, die uns immer wieder zurückwerfen. Prostatakrebs im Endstadium habe ich zwar nicht, aber Morgen einen Termin zur Darmspiegelung – Verdacht auf Glutenunverträglichkeit. Von Minute zu Minute schwindet auch meine Hoffnung auf körperliche Nähe zu Paula … 32, 33, 34 …

Die Kinder kommen heim und wir gehen alle – jeder auf seine Art – ziemlich erschossen ins Bett. Paula und ich liegen nebeneinander, ich lege meine Hand auf ihre Hüfte. Keine Reaktion. Das kenne ich schon. Aber gut, den Morgen danach gibt es ja auch noch; ist ohnehin Paulas liebste Kuschelzeit. Ich schlafe ein aber unruhig weiter: zu viel erotisches Kopfkino. Mitten in der Nacht bin ich hellwach. Paula auch. Das spüre ich. Ich schiebe meine Hand unter ihr Shirt, beginne sie zu streicheln. Zärtlich. Aber bestimmt. Ich möchte am liebsten mit ihr schlafen. Ich denke, sie merkt das. Blödsinn! Natürlich merkt sie das: Ich bin ziemlich erregt und liege auf Tuchfühlung an ihr. Meine Hoffnung wächst … 31, 1, 2 … Irgendwann drehe ich mich auf den Rücken. Paula bleibt, ebenfalls auf dem Rücken, liegen. Eine gefühlte Ewigkeit passiert gar nichts. Dann nestelt sie unbeholfen an meinem Handgelenk herum. Mehr nicht. Ich bin genervt; meine Erregung weicht einem leichten Harndrang. Ich gehe ins Bad. Als ich wiederkomme, lege ich mich mit dem Rücken zu Paula, schiebe mich aber zur Löffelchenkuschelstellung an sie heran. Das Genestel setzt wieder ein. Passt genau überhaupt nicht zu meinem Kopfkino. Ich hole tief Luft, ziehe das Kissen näher an mich ran.

„Bist du jetzt sauer, oder was?“ fragt Paula in diesem enttäuscht-spitzfindigen Ton. Mein Ton ist enttäuscht-zittrig: „Ach, es ist mal wieder eine Frage von unterschiedlichen Erwartungen.“ Das versteht Paula nicht. Ich wiegle zermürbt ab: „Hat eh keinen Sinn, drüber zu sprechen.“ Paula fragt, was sie mit dieser „Pauschalaussage“ anfangen soll. Ich spreche nicht drüber. Starre an die Innenseite meiner Augenlider. Schalte ab.

Nach einer Zeit geht Paula zur Toilette – im abgeschalteten Zustand nehme ich die Spülung wahr. Aber Paula kommt nicht zurück. Mit Verzögerung interpretiere ich die folgenden Geräusche als das Knacken der Treppe und das Öffnen der Studiotüre im 2. Obergeschoß. Für einen Moment huscht mir der Gedanke durch den Kopf, dass sich der Studiobalkon ca. 15 Meter über dem Boden befindet. Aber schließlich begreife ich: Paula schläft auf dem Sofa … 31, 40, 50 …

Als mich Paula mit den Worten, „Wie sieht’s aus? Der Kleine und ich haben Frühstück gemacht“, weckt, wirkt sie entspannt, freundlich und aufgeräumt. Das ist den ganzen Tag so. Nichts davon tut sie (nur) wegen der Kinder, nichts wirkt aufgesetzt. Das würde ich merken.

Jetzt würde ich gerne Paulas Gedanken lesen können.


Mittwoch, 24. April 2013

Schöne Bescherung

Ich bin noch nicht ganz da. Gestern war ich aus. Mit ein paar Freunden. Im Irish Pub. Irisches Bier in Strömen. Blöderweise habe ich außerdem meine So-vermeide-ich-den-allerschlimmsten-Kater-Apfelschorle ausgelassen. „Na, alter Mann?“, sagt Paula. Die anschließende Umarmung ist hastig. Sie wirft sich herum und steht auf. Ich schaffe es in diesem Moment nicht, mir darüber im Klaren zu werden, was mich stört. Ein kleiner fieser Arthur Guinness hämmert im meinem Kopf herum. Ich verstehe eben noch „… Frühstück …Jungs wecken …“ bevor Paula das Schlafzimmer verlässt.

Paula kommt vom Bäcker zurück. Das Knirschen des Kieses unter den Autoreifen übertönt das irische Gehämmere. Ich stehe auf. Mein Gleichgewichtssinn ist okay. Alles gut. Die ganze Familie sitzt schon am Tisch. Kaffee und frische Brötchen duften verführerisch. Ich habe Kohldampf, packe mich auf die Eckbank und fange an zu futtern. Ich bin gut gelaunt, erzähle vom Abend zuvor. Gebe die Neuigkeiten zum Besten. Und den neuesten Tratsch. Die Kinder lachen sich kaputt, als ich berichte, eine Zwanzigjährige in dem Pub habe mich für 40 gehalten. Paula lacht nicht. Paula sagt nichts. Paula isst auch nichts. Der Kaffee in ihrer Tasse wird kalt. Kurz vor zehn Uhr geht sie mit dem Jüngsten aus dem Haus. Er muss bei einer Aufräumaktion helfen. Der Große geht nach oben. Klemmt sich hinters Smartphone. Videos glotzen. Vermutlich. Ich futtere weiter, blättere in der Zeitung, lese da und dort eine Überschrift.

Paula und der Kleine kommen zurück. Jetzt schaffe ich, mir darüber im Klaren zu werden, was mich stört: Paula hat obermiese Laune. Seit Tagen haben wir kaum ein Wort miteinander geredet. Funkstille. Sie setzt sich mir gegenüber an den Tisch. Sie starrt ihre Knie an. Oder die Brötchenreste auf dem Teller vor ihr. „Wie sieht’s aus, wollen wir heute mit den Kindern ins Kino gehen“, frage ich. Paula schlägt die Augen auf. Ebenso gut könnte Iceman seine Kräfte walten lassen. Stechend und eiskalt zischt sie mich an: „Darum musst du dich kümmern!“ Augenblicklich schäumt mein inneres Fass über – wegen oder vielleicht trotz des Guinness. „Sag’ mal, was ist eigentlich los mit dir? Wenn du schlechte Laune hast … okay. Aber ich habe weder Lust, noch es verdient, derart angekackt zu werden“, schleudere ich ihr entgegen. Zur Betonung knalle ich die Zeitung auf den Tisch. „Verdammte Hacke.“

Kreischend geht es auf der anderen Seite des Tisches weiter: „Was? Was bitte erwartest du von mir, Paul? Du ignorierst hier, was ich sage. Gehst mit deinen Kumpels einen trinken. Obwohl ich dir signalisiert hatte, dass wir in Anbetracht des Kontostandes besser vorsichtig sein sollten. Und dann lädst du Morgen auch noch die Leute vom Tanzzirkel zum Kaffeetrinken ein. Ich komme mir hier vor wie der letzte Dreck.“ Was die Lautstärke angeht, kann ich noch einen drauflegen: „Halt! Halt! Halt! Ursprünglich hatten wir darüber gesprochen, die Tanzzirkler zum Abendessen einzuladen. Das ist für mich schon die kleine Lösung.“ Das Keifen steigert sich ebenfalls. „Was löst es eigentlich in dir aus, wenn ich sage, dass wir uns Parties derzeit nicht leisten können?“ „Wir hatten aber darüber gesprochen, dass ich das mache.“, poltere ich weiter. „Darum geht es nicht …“, fährt mich Paula an. Ich springe auf, packe demonstrativ ruckartig die Sprudel- und Apfelsaftflaschen, um in die Küche zu gehen. Auf den wenigen Metern dorthin knurre ich „Worum geht es dann? Ach, scheiß' drauf. Ich habe keinen Bock auf Grundsatzdiskussionen. Nicht heute. Schluss jetzt.“ Paula kommt hinter mir her, wirft die Tür laut ins Schloss: „Du wirst aber Grundsatzdiskussionen führen müssen, wenn wir den Karren nicht komplett an die Wand fahren wollen“, gellt es in meinen Ohren.

Die nächsten anderthalb Stunden führen wir eine Grundsatzdiskussion. Lautstark und heftig. Über Respekt, Geld, und darüber, ob ich die Leute vom Tanzzirkel für den nächsten Tag wieder ausladen soll. Paula sagt „Nein.“ Ich sage: „Aber mal ehrlich, wenn das Kaffeekränzchen Morgen steigt, fühlst du dich nicht wohl, ich fühle mich nicht wohl. Und wenn ich es absage, kommen die dummen Fragen. Und damit fühlen wir uns dann wohl, ja? Tolle ‚Party’, echt.“ Paula bleibt entrüstet: „Ja super, jetzt bin ich die Spaßbremse. Ist es das, ja? Ist es das? Mann!“ Sie schickt noch ein „aber wahrscheinlich kriege ich diesen Makel“ jetzt eh’ nicht mehr los“ hinterher. Ich stehe am Fenster, sehe mir die Pfützen auf der Straße an. Ich versuche, das Dilemma in mir und das Dilemma mit Paula gedanklich zu lösen. Ich schaffe es nicht. Ich habe das Gefühl, ich müsse gleich losheulen.

Auf dem Flur treffe ich den Kleinen. Er fragt mich, „wann ich Bescherung mache“.
Ich habe heute Geburtstag.


Freitag, 12. April 2013

Der Stein der Erholung

Dräuend hängt er über dem Wasserspiegel. Stetig, aber langsam vergrößert er sich. Unmerklich fast. Stückchen für Stückchen. Nur ein kleines bisschen noch. Er gerät aus dem Gleichgewicht. Ein Zittern. Er löst sich. Und stürzt. Durchdringt die Wasseroberfläche. Mit einem weichen, verwirrenden „swuop“ taucht er ein. Sein tiefes Blau zerplatzt in der klaren Flüssigkeit, wird dort bis zur Unkenntlichkeit verdünnt. Der nächste Tropfen dräut. Und fällt. Und der nächste … „swuop“, „swuop“, „swuop“ ... mit der Zahl der Tropfen steigt die Konzentration des Blaus.

Genauso tropft der Alltag in die Erholung des Urlaubs. Ach, im Grunde fängt es doch schon auf der Heimfahrt an: Kurz vor dem Ziel gibt es – „swuop“ – einen ätzenden Acht-Kilometer-Feierabendstau auf der Nord-/Südtangente. Paula sitzt fast wortlos im Auto. Sie ist die Dritte, die in der letzten Woche von Montezumas Rache heimgesucht wird: Es fängt in der Nacht vor der geplanten Heimfahrt an. Paula ist geschwächt, trinkt wenig, um die Fahrt so – sagen wir einmal – ereignisarm wie möglich zu halten.

Der Samstag bleibt trotzdem entspannt. Wir gehen alle zusammen einkaufen und besorgen das Geschenk für den Freund unseres Jüngsten, zu dessen Übernachtungsparty er eingeladen ist. Paula und ich sind am Abend bei Ansgar und Beate zum Essen eingeladen. Beate übertrifft sich mit sechs Gängen, an denen sie seit 16:00 Uhr köchelt, mal wieder selbst. Paula und ich sollten eigentlich wegen der Nachwirkungen der Magen-/Darmgeschichte vorsichtig sein. Leider klappt das nicht. Alleine des formidablen Sauvignon Blancs wegen, den Ansgar ausschenkt.

Am Sonntag findet das Sondertraining für den Großen statt; Paula fährt ihn früh um 9:00 Uhr hin. Um 14:00 Uhr – „swuop“, „swuop“ – läutet das Telefon: Hartes Tackling, schwere Bänderdehnung. Paula muss ihn wieder abholen. Am Abend erwischt Montezuma auch den Kleinen. Das Wochenende ist gelaufen. In der Nacht kriege ich Magenkrämpfe. Sechs Gänge, der Sauvignon Blanc und das ganze Heckmeck fordern ihren Tribut von meinen gestressten Innereien. Folglich bleiben die Kinder und ich am Montag zuhause; Paula muss mit dem Großen am Nachmittag zum Orthopäden. (Drei Wochen fällt das Training dann erst mal aus.)

Dienstag, Mittwoch und Donnerstag bleiben unauffällig. Bis auf – „swuop“ – den Antrag für Paulas Therapieplatz. Vom Umfang ganz abgesehen, sind (erwartungsgemäß) sowohl die Fragen, als auch die vorgegebenen ankreuzbaren Antworten vollkommen realitätsfern. „Teilzeitarbeit mit Schichtbetrieb“ zum Beispiel existiert in der Wahrnehmung der Leistungsträger überhaupt nicht. Nun denn. Als Paula am Donnerstagabend zur Chorprobe geht, habe ich endgültig das Gefühl, es ist wie immer. Alltag. Urlaubserholung adé.

Am Freitag hat Paula die erste Nachtschicht nach dem Urlaub. Ich spüre ihre Anspannung schon am Donnerstag, als wir uns schlafen legen. „swuop“. Doch nicht nur das: Im Pflegeheim, in dem Paulas demente Mutter lebt, findet das jährliche Frühlingsessen statt. Das ist eine wirklich sympathische Veranstaltung, für die die Mitarbeiter das Foyer des Heims liebevoll in ein Restaurant verwandeln. Sie ziehen sich weiße Schürzen an und bedienen Bewohner und Gäste. Paula geht mit ihrer Schwester hin. Als sie danach und damit vor der Nachtschicht nochmal kurz nachhause kommt, ist ihre Laune im Keller. Sie geht direkt nach oben. Ihr Gruß ist kaum zu vernehmen. Ich halte es noch siebeneinhalb Minuten auf dem Sofa aus. Dann folge ich ihr. Sie liegt auf dem Bett. Das Licht ist aus. Der Regen prasselt auf das Dachfenster. Paula ist schlicht am Ende. Der Termin für die – „swuop“ – Zahnoperation ihrer Mutter steht seit gestern fest. Das ist nicht irgendein Routineeingriff: Alle verbliebenen Zähne, besser Zahnstümpfe müssen entfernt werden. Das Infektionsrisiko ist nicht mehr kalkulierbar. Paula und ihre Schwester mussten als Vormünder entscheiden, ob diese Operation durchgeführt wird. Zweifel darüber plagen Paula jetzt. Und in 30 Minuten beginnt die Nachtschicht.

Dunkelblau.


Sonntag, 7. April 2013

Der Bringer: Urlaub

CAN510 – Paula und ich entscheiden uns für das Objekt CAN510 im aktuellen Katalog: Eine Ferienwohnung in einem kleinen Ort oberhalb von Cannobio am Lago Maggiore: Zwei Schlafzimmer, drei (!) Bäder, Wohnzimmer, Küche und … Seeblick. Alles dabei, was wir uns vorstellen. Was wir Eltern uns vorstellen. Angeblich gibt es via Satellit auch deutsch(sprachig)e Fernsehprogramme. Das verschweigen wir den Kindern. (Vorerst zumindest! Am dritten Tag vor Ort kriegen sie das ohnehin spitz.) Wir wollen raus aus der täglichen Mühle. Einfach Tapetenwechsel. Fertig. Mehr nicht. Für eine Woche. Spontan. Vorgestern noch wollten wir auf den Urlaub verzichten. Hauptsächlich der Kohle wegen. Aber vielleicht bekommt Paula in den Pfingstferien einen Therapieplatz. Dann können wir die Kinder zu Paulas Vater schicken. Der freut sich drauf, macht schon Pläne. Also auf zum Lago Maggiore!

Paula ist euphorisch. Sie kennt den „Lago“ seit ihren Jugendtagen, wir selbst waren mit den Kindern schon zweimal dort. Und sie will raus. Ich bin skeptisch. Nicht nur wegen Paulas Euphorie. Sie ist die Hüterin der Finanzen. Ermahnt mich stets, aufs Geld zu achten. Nachdem ihrer Meinung nach zu viel Geld ausgegeben wurde, hängt sie tagelang wortlos in einem schwarzen Loch. Schwierig. Außerdem: Wer weiß, wie ein Urlaub während dieser ärgeren Depressionsphase wird? Gehen wir uns alle gegenseitig auf den Zeiger? Das aber kann auch passieren, wenn wir zuhause bleiben. Vielleicht sogar noch eher. Also auf zum Lago Maggiore!

Auf mdr flimmert „Fakt ist …!“ zum Thema „Depression – die neue Volkskrankheit“ über den Äther. Die Moderatorin Ines Krüger nervt. Sie quatscht zu viel, zu laut und zu nichtssagend dazwischen. Vielleicht liegt’s daran, dass dieser ihr letzter Auftritt in dieser Sendereihe ist. Sei’s drum, die ganze Sendung bleibt sehr an der Oberfläche. Nichts (Neues) für Betroffene und deren Angehörige. Ich döse mehr, als dass ich zuhöre. Als Prof. Dr. Ulrich Hegerl vom Uniklinikum Leipzig zu Wort kommt, werde ich hellhörig. Sinngemäß gibt er zum Besten, dass wegfahren, rausgehen, in Urlaub fahren nichts bringe. Die Depression „reise ja mit“. Gut, vielleicht habe ich den Einstieg in diese Diskussionssequenz verdöst. Vielleicht kriege ich zu dieser späten Stunde den Kontext nicht mehr so recht hin. Doch der Stachel dieses Statements ist gesetzt. Schöne Aussichten für den Lago.

Signore Francheri, der Besitzer der Ferienwohnung, ist ein herzensguter Mann. Umwerfend sympathisch. Sehr um unser Wohl bemüht. Seine unverfälschte, etwas unbeholfene Innigkeit ist ein toller Einstieg in die paar Tage Urlaub. (Über das Wetter dieses Jahrhundertwinters rede ich an dieser Stelle nicht.) Die Wohnung ist 100 % schnuckelig, liebevoll renoviert, im Grunde riesig für vier Personen. Das Bergdorf verströmt einen mittelalterlichen Charme. Die Kinder sind begeistert. Paula und ich ebenfalls. Alle meine Zweifel fallen in dem Moment ab, als auch das Wohnzimmer durchgeheizt ist. Wir sind die ersten Gäste der Saison. Sogar die ersten Gäste überhaupt in dieser Wohnung, wie sich am Ende der Ferienwoche herausstellen wird. Wir finden einen BILLA-Supermarkt in erreichbarer Nähe. Versorgen uns mit Prosciutto crudo, salame, formaggi, Barolo Piemontese, crema choco spalmabile und den nötigen landestypischen österlichen Spezereien. Wir essen ebenso landestypisch spät zu Abend. Danach spielen wir zwei Runden „Phase 10“. (Noch haben die Kinder nicht spitz gekriegt, wie man die deutsch(sprachig)en Fernsehprogramme einstellt.) Müde, aber schon nach wenigen Stunden Urlaub tiefenentspannt fallen Paula und ich ins (zugegeben landestypisch etwas zu weiche) Bett. Trotz des frühen Aufstehens um 5:30 Uhr, der langen Autofahrt, dem Wohnungsbezug, der Einkaufstour habe ich Lust auf Paula. Und sie auf mich. Der Tag klingt perfekt aus. Für ein paar Minuten liege ich danach noch wach und denke an Prof. Dr. Ulrich Hegerl. Wovon hatte er gleich noch gesprochen?

Das ist mir in dem Moment – auf gut Deutsch gesagt – scheißegal.

Donnerstag, 28. März 2013

Service/Wüste

„Das wieder Beweis … alle … Psychiatrie arbeiten … selbst einen an der Klatsche … heute Morgen da hinkomme … Sprechstundenhilfe hat Tränen … entschuldigen Sie … Verzug … Computer … Problem … Patientenprogramm nicht hoch … Karte gar nicht einlesen … furchtbar … Formular ausfüllen … vom Wartezimmer Behandlungsraum … Frau Doktor hektisch auf und ab … Telefonhörer am Ohr … laut und keifend … staucht Serviceberater der Softwarefirma … ich aufgerufen… in Zimmer … gute Frau wieder am Telefon … Einrichtung inspiziert und meine Fingernägel … Gezeter fertig … in epischer Breite schildert … EDV nicht funktioniert … nur genickt … was hätte ich sagen sollen … sie nicht unnett … auch nicht überzeugend professionell … in meiner Gegenwart Dienstleister zur Minna macht … gerne wissen … ihr Alter … vielleicht so wie wir… kann auch jünger … vielleicht Kinder … letzte 20 Minuten … lapidar … ich erzähle aus meinem Leben … Versuch … Kürze zu schildern … wie es mir geht … wie lange … schon einmal Therapie … und Antrag für weitere stationäre Behandlung besprechen … soll Antrag … ausfüllen und schicken … kurz ihr Statement drauf … allerdings zwei Wochen Urlaub … Scheiße … vorher gewusst … Antrag vor einer Woche … dann jetzt … Antrag längst stellen … wieder ein paar Wochen verloren … nicht vor Juni … oder Juli … Sommerferien gleich vergessen … bürokratischer Scheiß … Anträge nicht stellen … Krankenkassen ihr Geld horten … frage Frau Hämmerle … Psychiaterin persönlich kennt … Kacke … halben Tag vertrödelt … besser nutzen können … wir übermorgen in Osterurlaub … schon Siebensachen herrichten … Morgen wieder Frühdienst.“

Paula grollt über den Besuch bei einer Psychiaterin, die ihr Frau Hämmerle, ihre Psychotherapeutin, empfohlen hat. Diese Sprechstunde ist seit fast sechs Wochen geplant. Paula hat ihn so herbeigesehnt. Sie will unbedingt eine stationäre Therapie machen. Wir haben das längst geplant, die Organisation mit unseren (Schul)kindern und der Dorfhelferin längst durchgespielt.

Leider kriege ich von Paulas Lamento nur die Hälfte mit. Ich habe heute im Büro eine aufwändige PowerPoint-Präsentation erstellt. Meine Augen brennen von dem ewigen Gestarre auf den Bildschirm. Ich verzichte deshalb auf die abendliche Buchlektüre. Paula aber liest. Und liest. Und liest. Ich weiß, dass der Termin bei der Psychiaterin heute stattgefunden hat. Ich weiß, dass Paula darüber sprechen will. Und ich spüre, dass sie angespannt ist. Aber sie liest. Ich habe Mühe, mich wach zu halten. Aber es muss sein. „Halt dich aufrecht, Junge“, befiehlt mir der Empathiebeauftragte in meinem Kopf, „bleib‘ bei ihr; es kann sich nur noch um eine Minute handeln.“ Es werden vier, vielleicht fünf, bis Paula endlich ihr Buch weglegt und das Licht löscht. Zwischen dem bereits wilden Gebräu aus Nachtelben, Schlafgeistern und Ideen für die Optimierung der PowerPoint-Präsentation schaffe ich eben ein lallendes „Und erzähl‘ …“. Und Paula erzählt.

Als ihre Geschichte zu Ende ist, legt sie den Kopf auf meine Schulter; ich meinen Arm um sie. Ich streichle ihr Gesicht. Sofort spüre ich die Tränenspur auf ihrer Wange. Nur mit Mühe schafft es meine Lippenmotorik die Schwere des Schlafs nochmals für einen Augenblick ungelenk zu überwinden: „Ist sonst noch was?“. Paula sagt: „Ach, ich bin irgendwie so traurig heute.“

In der Nacht träume ich von unserem letzten Mallorca-Urlaub: Am Strand streunen Frauenfiguren in weißen Praxiskitteln umher. Sie fragen mich, ob ich „kaufe wolle Sonnebrill von echde gudde originale Qualitäten fur mein hubsche Frau“. Einer besonders aufdringlichen Figur zertrümmere ich in einem Schreianfall den Schädel mit der Computermaus. Das Luder stürzt zu Boden, aus der Karkasse ihres Kopfes springt ein Osterhase heraus und hoppelt im blendenden Sonnenlicht davon.

Ich fühle mich leer.