hihihi – „Mama“ das klingt irgendwie bescheuert aus dem Mund
eines Fünfzigjährigen. Aber du bist sie nun mal: meine Mama.
Ja, ich habe mich lange nicht gemeldet. Völlig zu Recht hast
du dich darüber beklagt. Wenn du diese Zeilen gelesen hast, wirst du dich wieder beklagen: Du fändest es schön, wenn ich einfach mal anrufen würde, um mich zu
erkundigen, wie es dir geht. Und nicht, weil ich etwas auf dem Herzen habe. Ich
habe aber etwas auf dem Herzen. Und – ich muss wieder grinsen – du bist eben
meine Mama. Also schreibe ich dir.
Ich habe das Gefühl, mein ganzes Leben bröselt auseinander.
In der Firma läuft es nicht gut. Das hatte ich schon
erzählt, als ich neulich bei euch war. Leider ist es noch schlimmer geworden.
Diese Menschen von der sogenannten Innenrevision … Mann, Mann, Mann. Sie haben
herausgefunden, dass unser Ex-Chef und der Ex-Prokurist die
Bilanzen frisiert haben. Vermutlich, um die eigenen Boni nach oben zu treiben.
Nicht nur, dass wir als Unternehmen nun schlecht(er) dastehen. Nein, es wurden
auch Anschuldigungen gegen mich erhoben. Ich hätte von den systematischen
Fälschungen gewusst. Das gehe aus einer E-Mail hervor. Die haben sie im Postfach
des Prokuristen gefunden. Stell‘ dir vor: Das wurde auf Veranlassung des
Staatsanwalts geöffnet. Das alles ist zwar ebenso Wortklauberei wie Quatsch. Ich
wurde zur Sache angehört. Selbst der Anwalt der „Gegenseite“ hat abgewinkt. Aber
auf welcher Vertrauensbasis soll es nun weitergehen? Leider bin ich – wer
wüsste das besser als du? – nun auch nicht mehr der Jüngste. Von vielleicht
zwölf Bewerbungen kamen sechs zurück. Ich habe nicht eine Einladung zu einem
Gespräch bekommen. Bisher.
Vielleicht, nein: sicher, spielt das auch eine Rolle, dass
es Paula derzeit sehr schlecht geht. Seit der Virusinfektion im Dezember hat sie (auch) körperlich abgebaut. Das Laufen hat sie
fast ganz aufgegeben. Sie schafft kaum noch vierzig Minuten am Stück. Meine
Güte, wenn ich mir vorstelle, dass sie vor wenigen Jahren den Halbmarathon in
zwei Stunden geschafft hat!
Ganz zu schweigen von ihrer psychischen Verfassung.
Selbstverständlich. Sie steckt in einem tiefen Loch. In ihrem Job nimmt die
Belastung auch ständig zu. Gleichzeitig ist sie selbst immer weniger belastbar.
Wenn sie zuhause ist, ist sie total genervt, nicht besonders
kommunikationsfreudig, müde oder alles zusammen. Toll. Dann komme ich mit
meinen Jobproblemen und Bedürfnissen daher. Dafür hat sie fast keine Antennen
(mehr). Ein Teufelskreis. Wir streiten viel. Wir sind gefühlte Hundert Meilen
voneinander entfernt. Seit letzter Woche schläft Paula im Arbeitszimmer. Wenn
sie Spätschicht hat.
Das ist aber nicht alles.
Vielleicht erinnerst du dich – auch wenn es über zwanzig Jahre
her ist: Damals habe ich dich angerufen. Weil ich etwas auf dem Herzen hatte.
Ich habe geheult wie ein Schlosshund. Weil ich am Tag zuvor mit Nâna Schluss
gemacht hatte. Wegen einer anderen Frau. Mit der „es“ dann nichts geworden ist.
Diese Frau habe ich wiedergetroffen. (Sie heißt Carine. Das habe ich dir damals
wahrscheinlich nicht gesagt. Es tat nichts zur Sache. Tut es auch jetzt nicht.
Sie könnte ebenso gut Elke, Gisele oder Sabine heißen. Ach, egal … )
Wir treffen uns mittlerweile regelmäßig. Das tut mir gut. Ich spüre mich wieder. Oder zumindest ganz anders. Mama, ich lebe! Das fühle und denke ich, wenn ich mit ihr zusammen bin. Nur um es an dieser Stelle klarzustellen: Nein, es ist nicht zu dem gekommen, was du in deiner mütterlich vorwurfsvollen Art „das Äußerste“ nennen würdest. Wir treffen uns. Okay!? Gut, ein bisschen Anfassen und mal ein Kuss nach zwei Gläsern Wein sind dabei. Zugegeben.
Wir treffen uns mittlerweile regelmäßig. Das tut mir gut. Ich spüre mich wieder. Oder zumindest ganz anders. Mama, ich lebe! Das fühle und denke ich, wenn ich mit ihr zusammen bin. Nur um es an dieser Stelle klarzustellen: Nein, es ist nicht zu dem gekommen, was du in deiner mütterlich vorwurfsvollen Art „das Äußerste“ nennen würdest. Wir treffen uns. Okay!? Gut, ein bisschen Anfassen und mal ein Kuss nach zwei Gläsern Wein sind dabei. Zugegeben.
Und nun? Tja, keine Ahnung. Das ist das Schlimmste.
Aber, aber, aber … ich trage gefühlte achtzig Millionen „Abers“ mit mir herum. Sie zerfressen mich. Ich habe das Gefühl, nichts mehr auf die Reihe zu bekommen. Den Job nicht, die nötigen Entscheidungen nicht, die – ja (leider) im Plural – Beziehungen nicht. Nichts, nichts, nichts … Es ist zum Kotzen. Ich sehe gerade keinen Ausweg. Vielleicht kannst du mir mal in den A … llerwertesten treten. Bitte. Mama.
Es drückt dich dein
Paul
PS: (Wenigstens) den Jungs geht’s gut. Dass der Große im
Herbst seine Lehre anfängt, wisst ihr ja. Auch sonst – um es im Jugendjargon zu
sagen – geht er steil. Frequentiert als Gastherr ständig irgendwelche
Tanzkurse. Und er trifft sich dauernd mit irgendwelchen Mädels. Mit wechselnden
Mädels. (Aber was soll ausgerechnet ich jetzt dazu sagen?) Der Kleine macht uns zwar in der
Schule etwas Sorgen. Aber: Was soll’s, er ist dreizehn. Sonst schlägt er sich redlich.