Sonntag, 26. Juli 2015

Bis zur Schmerzgrenze

Volker ist ein Arschloch. Er ist sogar der Prototyp eines Arschlochs. Schlimmer noch: Er ist von Grund auf bösartig. Kurzum, die Inkarnation eines Feindbildes. Meines Feindbildes. Er ist der Finanzchef unserer Firmengruppe. Von dort hat er den Auftrag bekommen, die Bilanzfälschung aufzuklären, die Anfang des Jahres aufgedeckt wurde. Dabei gibt er sich redlich Mühe. Wobei er seiner Niedertracht und damit sich treu bleibt. Immer wieder versucht er, auch mich aufs Glatteis zu führen. Als Zahlenmensch ist er allerdings ein „Alpha Kevin“ der Rhetorik. Und damit bei mir an den falschen geraten. Ich habe nichts zu verbergen. Dennoch muss ich ihn immer mal wieder daran erinnern, dass ich keine Antworten geben werde, die mich selbst in Misskredit bringen könnten. Er rechtfertigt sein Vorgehen mit dem Anspruch des Unternehmens, jede noch so kleine Unregelmäßigkeit zu klären. „Zero Tolerance“ nennt er das dann. Das ist meist der Moment, in dem ich meine rechte Augenbraue hochziehe – wobei ich vermutlich nur halb so arglistig wirke, wie der liebe Volker – und mich übergeben möchte.

Paula hat monströse Kopfschmerzen. Nicht das dumpfe übliche Dröhnen einer wetterbedingten Migräne. Nein, sie krümmt sich unter stichartigen Schmerzattacken. Über Nacht hat sie bereits 1.200 mg Schmerzmittel eingenommen. So geht es nicht weiter. Ich werfe das Leergut in die Transportkiste, wir fahren in die Klinik. Paula checkt in der Notaufnahme ein. Ich gehe einkaufen. Das wirkt vielleicht ein bisschen herzlos. Aber: Erstens sind es nur zwei Tage bis Heiligabend; die Weihnachtseinkäufe müssen gemacht werden. Schließlich kommt Lilith über die Feiertage zu Besuch. Zweitens dauert es meist Stunden, bis alle Untersuchungen in der Notaufnahme erledigt sind. So auch diesmal. Paula ruft mich nicht an wie verabredet und so fahre ich die Einkäufe sogar erstmal nach Hause. Als Paula sich endlich meldet und ich neben ihr auf dem Krankenbett sitze, dauert es noch eine Stunde, bis alle Formalitäten erledigt sind und ein Arzt ein letztes Statement zur Diagnose abgibt: „Nichts Spezifisches.“ Mit Paulas Krankschreibung und einem Rezept für noch mehr, noch höherdosierte Schmerzmittel in der Tasche fahren wir nach Hause.

Es hilft alles nichts: Paula schleppt sich – von den Medikamenten reichlich abgeschossen und immer noch mit wildesten Schmerzen – durch die nächsten Tage. Eigentlich verbringt sie die meiste Zeit im Bett. Wenn sie für ein paar wenige Stunde aufsteht, stöhnt sie unter den anhaltenden Stichen im Kopf regelmäßig auf. Die Stimmung ist bei uns allen auf dem Nullpunkt. Weihnachten können wir abhaken. Wir können nichts unternehmen. Alles, was wir uns vorgenommen haben, bleibt liegen. Aufgrund der hohen Medikamentendosen muss Paula jeden Tag zum Hausarzt, um die Blutwerte prüfen zu lassen.

Am 28. Dezember sind die Schmerzen noch schlimmer. Der Hausarzt weiß sich nicht mehr zu helfen, empfiehlt Paula, bei einem Dermatologen vorstellig zu werden. Lilith fährt mit Paula in die Klinik. Nur eineinhalb Stunden später sind sie zurück. Der Verdacht des Hausarztes hat sich bestätigt: Herpes Zoster. Paula bekommt nun (zusätzlich) andere Medikamente. Das hilft. Aber Paula ist nun (wie) im Drogenrausch. Die miese Stimmung bleibt. Die Jungs, Lilith und ich müssen die Tage neu und anders organisieren. Als Lilith wieder weg ist, bleibt das meiste zwangsläufig an mir hängen. Von dem Urlaub, den ich genommen habe, habe ich nicht viel.

Heute bin ich mit ein paar Kollegen verabredet, die Einkäufe will ich vorher erledigen. Deshalb habe ich mit Paula gestern geklärt, wann sie zu ihrem Termin muss: „Ich gehe um 11:00 Uhr“, hat sie gesagt. Jetzt ist es 10:00 Uhr, ich komme die Treppe herunter und erinnere an die Vereinbarung: „Ich gehe dann eben mal einkaufen, das schaffe ich ja locker in einer Stunde.“ Paula reißt die Augen auf, beugt sich leicht nach vorne. Sie sieht jetzt aus wie eine Hyäne in Angriffsstellung. Wie ein Hyäne kläfft sie auch los – hart und grob: „Sag‘ mal! Hast du mir nicht zugehört? Ich brauche das Auto. Ich muss um 11:00 h bei meinem Termin sein!“ Ich versuche, den Unterschied zwischen „um 11:00 Uhr gehen“ und „um 11:00 Uhr dort sein“ zu erläutern. Lautstark und giftig führen wir den ebenso sinnlosen wie stets wiederkehrenden Streit über den Wortlaut des Gesagten. Das endet auch diesmal in Grundsätzlichem: „Kannst du ein einziges Mal …“, ballert mir Paula entgegen, „… auch nur ein einziges beschissenes Mal in diesem Leben auf mich Rücksicht nehmen?“

Mir stockt der Atem. Weniger wegen Weihnachten; sie kann ja nichts dafür. Aber bestimmt wegen all der Jahre mit ihrer Depression. „Zero Tolerance“. Paula sieht das selbstverständlich genau andersherum als ich. Dennoch oder gerade deshalb ist mir gerade zum Kotzen.


Sonntag, 19. Juli 2015

Die Duplizität der Ereignisse – eine Randnotiz

T. C. Boyle ist einer meiner Lieblingsschriftsteller. Seine Geschichten sind so absonderlich wie sein zweiter Vorname Coraghessan. „World’s End“ (von 1987) ist eines meiner Lieblingsbücher. Nicht nur, weil es das erste seiner Bücher war, das ich je gelesen habe. Manchmal möchte ich dieses Buch verschenken. An Carine. In morgendämmrigen Momenten, in denen die Vernunft über Schwanz und Herz siegt. Den Momenten, in denen mir sonnenklar ist, dass es keinen Sinn macht, Carine weiter zu bezirzen.

Carine wird den Absprung aus ihrer desolaten Ehe („Ich habe jetzt aber keine Lust, dich in den Arm zu nehmen.“) nicht schaffen. Zu lange schon ist sie mit diesem Mann zusammen bzw. verheiratet. Zu schön sind die dolce vita und der soziale Status, den sie als Teil der Haute Volée unserer Stadt genießen. Und zu groß ist die Angst, ihre Kinder im Stich zu lassen. (Was sie de facto ja gar nicht würde tun müssen ... sag‘ ihr das bitte mal jemand!)

Über Jahrhunderte kreuzen sich in „World’s End“ Wege und Schicksale der Familien Van Brunt und Van Wart. Wie von einem jenseitigen Puppenspieler gelenkt, wiederholen sich dabei die Ereignisse: Im Jahre 1663 muss Jeremias Van Brunt ein Fuß amputiert werden; 1968 verliert Walter Van Brunt ein Bein bei einem Motorradunfall. 1990 habe ich Carine zum ersten Mal getroffen und mich in sie verliebt. 2012 spricht sie mich auf dem Schulfest an. Und ich mag sie. Wieder. Mehr als ich vermutlich sollte.

Ich treffe Carine häufig zum Kaffeetrinken. Auch am Donnerstag. Am nächsten Dienstag hat sie ihre Operation. Schulterinstabilität links lautet die Diagnose. Sie hätte das schon viel früher machen lassen müssen. Das weiß sie. Doch erst nach der ach-was-wie-ich-denn-wievielten Ausrenkung im letzten Jahr hat sie sich dazu durchgerungen. Die Spezialklinik liegt in rund 200 km Entfernung. Carine fährt mit dem Zug alleine dorthin. Sie ist hibbelig, ziemlich aufgekratzt, nicht wirklich für eine Plauderei zu haben. Als ich wieder im Büro bin, organisiere ich eine Blumenstraußlieferung in die Spezialklinik. Für den Mittwoch nach der OP. „Vielen, vielen Dank für die Blumen. Da bin ich ja mal platt und freu‘ mich riesig“, steht in der SMS, die sie mir schickt. (Ihr Gatte hat sie nicht mal angerufen. Doch das nur so am Rande.)

Paula weint: „Pauli …“ – Pauli sagt sie nur, wenn sie mir eröffnen will, dass die Kinder irgendetwas kaputt gemacht haben, was mir gehört. Oder wenn etwas Schlimmes passiert ist. Heute ist etwas Schlimmes passiert: „Pauli, komm‘ schnell. Ich habe hier vorne an der Ecke einen Unfall gehabt.“ Heute ist Sonntag. Sie wollte nur eben zur Bäckerei radeln, um Brötchen zu holen. „Ja, ich komme“, krächze ich an dem Kloß im Hals vorbei ins Telefon.

Ich ziehe mir die verschwitzte Jeans von gestern an, springe in die Flip-Flops, renne die Treppe hinauf zu den Kindern. Die hatte Paula schon geweckt, bevor sie zum Bäcker aufbrach. „Leute, die Mama hatte einen Unfall. Ich fahre da jetzt hin. Bitte macht euch keine Sorgen. Sie hat am Telefon gesagt, es sei nicht so schlimm. Ich melde mich gleich.“ Ich verstehe nicht mehr, was die Jungs hinter mir herrufen. Ich bin schon auf der Treppe, schnappe mir das Handy, renne zum Auto und fahre los. Es sind nur dreihundert Meter. Paula liegt auf dem Radweg. Ein Mann im blauen Hemd beugt sich über sie. (Ein Notarzt, der zufällig vorbeikam, wie sich später herausstellt.) Ein anderer steht etwas ratlos daneben, nestelt an seinem Handy herum. Eine Frau kniet neben Paula auf dem Asphalt und hält ihre Hand. Die Decke unter Paulas Kopf stammt aus ihrem Auto. Ich fahre auf die Garageneinfahrt, die direkt an der Unfallstelle liegt. Ich springe aus dem Auto und laufe dorthin. Paula ist käseweiß im Gesicht.

Ich knie mich hin, nehme Paulas andere Hand in meine. „Was ist passiert?“, frage ich. „… um die Kurve … Mann entgegen … musste bremsen … abgestiegen über Lenker …“ wispert Paula bruchstückhaft. Ich wende mich dem Notarzt im blauen Hemd zu. „Sie ist auf die Seite gestürzt“, sagt er …

… „die linke Schulter ist kaputt.“

Das war vor vier Stunden. Wir hatten den Krankenwagen gerufen, weil Verdacht auf Rippenbruch besteht. Ich muss an T.C. Boyle denken. Während ich diesen Post schreibe, warte ich auf den Anruf aus der Klinik.