Donnerstag, 28. März 2013

Service/Wüste

„Das wieder Beweis … alle … Psychiatrie arbeiten … selbst einen an der Klatsche … heute Morgen da hinkomme … Sprechstundenhilfe hat Tränen … entschuldigen Sie … Verzug … Computer … Problem … Patientenprogramm nicht hoch … Karte gar nicht einlesen … furchtbar … Formular ausfüllen … vom Wartezimmer Behandlungsraum … Frau Doktor hektisch auf und ab … Telefonhörer am Ohr … laut und keifend … staucht Serviceberater der Softwarefirma … ich aufgerufen… in Zimmer … gute Frau wieder am Telefon … Einrichtung inspiziert und meine Fingernägel … Gezeter fertig … in epischer Breite schildert … EDV nicht funktioniert … nur genickt … was hätte ich sagen sollen … sie nicht unnett … auch nicht überzeugend professionell … in meiner Gegenwart Dienstleister zur Minna macht … gerne wissen … ihr Alter … vielleicht so wie wir… kann auch jünger … vielleicht Kinder … letzte 20 Minuten … lapidar … ich erzähle aus meinem Leben … Versuch … Kürze zu schildern … wie es mir geht … wie lange … schon einmal Therapie … und Antrag für weitere stationäre Behandlung besprechen … soll Antrag … ausfüllen und schicken … kurz ihr Statement drauf … allerdings zwei Wochen Urlaub … Scheiße … vorher gewusst … Antrag vor einer Woche … dann jetzt … Antrag längst stellen … wieder ein paar Wochen verloren … nicht vor Juni … oder Juli … Sommerferien gleich vergessen … bürokratischer Scheiß … Anträge nicht stellen … Krankenkassen ihr Geld horten … frage Frau Hämmerle … Psychiaterin persönlich kennt … Kacke … halben Tag vertrödelt … besser nutzen können … wir übermorgen in Osterurlaub … schon Siebensachen herrichten … Morgen wieder Frühdienst.“

Paula grollt über den Besuch bei einer Psychiaterin, die ihr Frau Hämmerle, ihre Psychotherapeutin, empfohlen hat. Diese Sprechstunde ist seit fast sechs Wochen geplant. Paula hat ihn so herbeigesehnt. Sie will unbedingt eine stationäre Therapie machen. Wir haben das längst geplant, die Organisation mit unseren (Schul)kindern und der Dorfhelferin längst durchgespielt.

Leider kriege ich von Paulas Lamento nur die Hälfte mit. Ich habe heute im Büro eine aufwändige PowerPoint-Präsentation erstellt. Meine Augen brennen von dem ewigen Gestarre auf den Bildschirm. Ich verzichte deshalb auf die abendliche Buchlektüre. Paula aber liest. Und liest. Und liest. Ich weiß, dass der Termin bei der Psychiaterin heute stattgefunden hat. Ich weiß, dass Paula darüber sprechen will. Und ich spüre, dass sie angespannt ist. Aber sie liest. Ich habe Mühe, mich wach zu halten. Aber es muss sein. „Halt dich aufrecht, Junge“, befiehlt mir der Empathiebeauftragte in meinem Kopf, „bleib‘ bei ihr; es kann sich nur noch um eine Minute handeln.“ Es werden vier, vielleicht fünf, bis Paula endlich ihr Buch weglegt und das Licht löscht. Zwischen dem bereits wilden Gebräu aus Nachtelben, Schlafgeistern und Ideen für die Optimierung der PowerPoint-Präsentation schaffe ich eben ein lallendes „Und erzähl‘ …“. Und Paula erzählt.

Als ihre Geschichte zu Ende ist, legt sie den Kopf auf meine Schulter; ich meinen Arm um sie. Ich streichle ihr Gesicht. Sofort spüre ich die Tränenspur auf ihrer Wange. Nur mit Mühe schafft es meine Lippenmotorik die Schwere des Schlafs nochmals für einen Augenblick ungelenk zu überwinden: „Ist sonst noch was?“. Paula sagt: „Ach, ich bin irgendwie so traurig heute.“

In der Nacht träume ich von unserem letzten Mallorca-Urlaub: Am Strand streunen Frauenfiguren in weißen Praxiskitteln umher. Sie fragen mich, ob ich „kaufe wolle Sonnebrill von echde gudde originale Qualitäten fur mein hubsche Frau“. Einer besonders aufdringlichen Figur zertrümmere ich in einem Schreianfall den Schädel mit der Computermaus. Das Luder stürzt zu Boden, aus der Karkasse ihres Kopfes springt ein Osterhase heraus und hoppelt im blendenden Sonnenlicht davon.

Ich fühle mich leer.


Samstag, 23. März 2013

Knoblauch geht ab und wir gehen steil*

Party’s over. Schön war’s. Sehr schön. Paula und ich haben es lange ausgehalten. Die Leute waren nett. Die Drinks lecker, sagt Paula. Ich bleibe meistens beim Bier. Wir sind die letzten, die gehen. Wie früher oft. Allerdings Stunden früher. Wir tänzeln die Straße entlang zum Auto. Das ist ein Stück Wegs; in der Einbahnstraße sind die Parkplätze rar. Deshalb haben wir uns vorhin den ersten geschnappt, der frei war. Im Schatten eines Baumes ziehe ich Paula an mich heran. Hier und jetzt habe ich Lust zu knutschen – so richtig pubertär, mit allem Drum und Dran. Naja, wir sind fast fünfzig Jahre alt, es klappt nicht (mehr) so wie vor 30 Jahren. Intensiv und aufregend ist es trotzdem.

Beim Einsteigen ins Auto rücke ich die Dinge in meiner Hose mit einer schnellen, tausendfach praktizierten Handbewegung zurecht. Mein Alkoholpegel ist mit der Straßenverkehrsordnung nicht mehr kompatibel; das Wohngebiet ist Zone 30. Ich ignoriere das; zu mächtig und eindeutig ist das gegenseitige Verlangen. In acht Minuten sind wir zu Hause. Ich spute mich, ins Bad zu kommen. In hohem Bogen feuere ich meine Klamotten mit Händen und Füßen vor den Wäschekorb. Zähne putzen, frisch machen, ab in die Heia.

Paula braucht ein paar Minuten länger. Lange genug für die Promille, mich schachmatt zu setzen. 'Wohliger Dämmerschlaf‘ ist wohl der treffendste Terminus für den Zustand, in dem ich mich befinde, als Paula ins Bett kommt. Das Verlangen ist immer noch unmissverständlich. Naja, wir sind beide fast fünfzig Jahre alt. Wir schlafen am frühen Morgen miteinander. Das ist unsere Lieblings-Miteinander-Schlafen-Zeit. Ich mag das. Im Dämmerlicht sieht Paula sehr schön aus. Langsam, ruhig und zärtlich genießen wir uns. Wir sind uns sehr nah.

Gegen elf Uhr schlüpft der Jüngste zu uns ins Bett. Er hat Kohldampf, hat den Frühstückstisch bereits gedeckt. (Das Aufstehen ist ein kleines bisschen peinlich; wir sind beide nackt.) Die Stimmung ist bei allen entspannt. Am Nachmittag näht sich Paula eine Handtasche; ich spiele mit den Kindern, unter anderem eine Runde Trivial Pursuit, die ich knapp um eine saublöde Wissenschaft-und-Technik-Frage verliere. Unterschätze nie einen Achtklässler! Am Abend koche ich Spaghetti Aglio e Olio. Das ist schnell gemacht und sehr lecker. Der Tatort ist recht passabel, die Kinder streiten nicht ganz so doll wie sonst. 

Paula kann in dieser Nacht nicht schlafen. Ich auch nicht. Wir wälzen uns eine Zeit herum. „Mann, täusche ich mich oder ist es hier so warm?“, frage ich. „Keine Ahnung“, antwortet Paula, "mir ist jedenfalls auch ziemlich heiß.“ Mein Blödelaggregat springt an und ich sage: „Wir könnten uns ausziehen und aufeinander legen!“ Paula muss lachen. Wir schubsen unsere Decken beiseite, kuscheln uns aneinander. Ich meinem Kopfkino läuft unsere ganz persönliche „Tagesschau“ und sanft dämmere ich ins Land der Träume hinüber.

Mit einem Ruck dreht sich Paula zu mir um. Ich stutze ein Sekündchen. Dann bin ich hellwach. Paula fällt über mich her, ungestüm reißt sie mir Shirt und Slip vom Leib. Sich auch. Sie kommt direkt zur Sache. Ich richte mich auf und bin dabei. Wir fallen übereinander her. Sie will mich. Ich will sie. Der Raum dampft, es riecht nach purem Sex. Wir haben puren Sex. Schnell und hart. Paulas geschmeidige Hitze umfängt mich. Ich habe meine Hände überall an ihr. Dann verschlingen wir uns. Ich sie. Sie mich. Wir fordern das Höchste voneinander. Gierig und erbarmungslos. Wir geben es uns. Lautstark, ohne Hemmungen. Japsend sinken wir zurück; unsere Schenkel sind unsere Kissen. „Mir ist jedenfalls auch ziemlich heiß“, hat Paula gesagt. Ich spüre jetzt, was sie gemeint hat und lächle in das Dunkel des Schlafzimmers, das sich langsam abkühlt.

Wieder unter der Decke quatschen wir eine ganze Weile darüber, wie wir das Leben als Paar mit Paulas Depression empfinden. In aller Ruhe.

Ein wirklich harmonischer Sonntag.


*Frei nach dem Refrain des Songs "Schwinger": "Seeed geht ab und ihr geht steil ..."


Freitag, 22. März 2013

Chorchaos/Chaoschor

Totenstille. Ich wage es kaum, die Wohnungstür ins Schloss fallen zu lassen. Ich benutze die Klinke. So wie ich es den Kindern immer sage. Die Kinder sind nicht da. Wahrscheinlich irgendwo kicken im Dorf. Auch von Paula keine Spur. Sie hat sich hingelegt. Das macht sie immer, wenn sie Nachtschicht hat. Das kommt mir ganz gelegen. Ich habe in der Mittagspause eine neue CD gekauft: Randa and the Soul Kingdom „What you need“. Die kann ich jetzt ungestört hören. Ich bin hundemüde. Die Woche war pickepacke voll mit Terminen. Für uns alle. Ich nicke ein. Erst beim achten Song, „Be yourself“, werde ich wieder wach. Nicht wegen des knallharten Soulrhythmus‘. Paula kommt die Treppe herunter. Im Bademantel. Ich rapple mich auf. Drücke ein mattes „Hallo“ ab. Paulas „Hallo“ ist nicht weniger matt. Ich stehe etwas verloren in der Küche herum, während sie die Kartoffeln aufsetzt.

„Ich habe den Kindern gesagt, sie sollen um halb sieben hier sein“, sagt Paula, wir müssen heute früher essen. Ich muss um halb acht zur Generalprobe vom Chor“. Ja, weiß ich“, sage ich, obwohl ich nicht weiß, wann die Probe anfängt. „Soll ich“, fragt Paula, „meine Plünnen für den Nachtdienst gleich mitnehmen, falls die Probe länger dauert. Oder soll ich nochmal nach Hause kommen, bevor zum Dienst gehe?“ De facto bleiben zwischen Probenende und Aufbruch zum Dienst 35 Minuten. Ich analysiere: „Naja, es gibt doch nur zwei Möglichkeiten: Wenn du dein Zeug gleich mitnimmst, kannst direkt zum Dienst fahren ohne in Stress zu kommen. Wenn du nochmal heimkommen willst, musst eben rechtzeitig gehen, egal ob die Probe zu Ende ist.“ „Ja, stimmt“, sagt Paula tonlos. Mehr nicht.

Während sie ansetzt, die Zutaten für die Beilagen aus dem Kühlschrank zu holen, klagt sie weiter: „Ach, das klappt alles gar nicht. Die Tenöre haben gestern in der Probe komplett versagt.“ Ich nehme ihr den Lachs ab, „lass nur, ich mach‘ das. Du kannst dich ja anziehen.“ Sie zieht sich an und kommt danach wieder in die Küche: „Ich habe überhaupt keine Lust, in die Probe zu gehen.“ Ich wasche die Tomaten und nehme diesen Satz zur Kenntnis. Mehr nicht.

Die Jungs kommen nach Hause. Stinken wie die Otter und sehen auch so aus. Wir scheuchen sie ins Bad. Nachdem sie sich eher notdürftig den Bolzplatzmatsch von den Gliedern gekratzt haben, gibt es Abendessen. Sie schildern ihre Heldentaten, sind ziemlich aufgekratzt und eine Spur zu laut. Werde ich mich nicht dran gewöhnen. Paula stochert in der einzigen Kartoffel, die sie sich genommen hat: „Ich habe irgendwie keinen Hunger.“ Den Kindern ist die Bananenflanke von Samuel in der zweiten Halbzeit wichtiger. Ich sehe Paula an. Mehr nicht.

Wir sitzen noch ein paar Minuten zusammen, die Kinder beraten sich nun über das TV-Programm des Abends. Paula unterbricht die Debatte: „Hoffentlich ist es Morgen nicht so kalt in der Kirche während des Konzerts. Ich weiß gar nicht, was ich anziehen soll. Vielleicht eine Hose; im Rock habe ich beim letzten Konzert gefroren.“ Mir scheint der Gedanke folgerichtig: „Ja, mach doch“, sage ich. Mehr nicht.

Pünktlich um halb acht bricht Paula zur Probe auf. Die Tasche für den Dienst nimmt sie nicht mit. Die Kinder ziehen sich einen Bud-Spencer-&-Terence-Hill-Filme rein. Ich surfe im Internet. Der Film ist gerade zu Ende, als Paula zurückkommt. Die Art, wie sie die Handtasche auf den Garderobenstuhl knallt, nimmt ihre Stimmung vorweg. Sie explodiert: „Ich weiß überhaupt nicht, wie Günter (das ist der Dirigent) sich das vorstellt. Da klappt nichts. Das Orchester hat einen Scheiß gespielt. Im Chor war Vollchaos. Wir sind halt keine Profis. Wir brauchen mehr Proben. Das geht so was von in die Hose Morgen.“ Sie setzt sich an den Tisch. Vergräbt das Gesicht in den Händen.

Das ist jetzt genug! Mit leicht belehrendem Unterton bitte ich sie: „Dann lass‘ es doch. Den Stress musst du dir nicht reinziehen.“ Ich ahne, dass das sinnlos ist: „Nein, ich gehe da schon hin. Das kann ich nicht bringen, beim Konzert nicht mitzusingen.“ Sie geistert eine viertel Stunde durch die Wohnung, putzt sich die Zähne. Dann zieht sie sich den Mantel an, um zum Nachtdienst zu gehen. Die Tür fällt ins Schloss.

Totenstille.

Sonntag, 17. März 2013

Gut drauf

„Am Samstag gibt’s eine Erwachsenentanzparty bei Arnaldo und Adrian. (So heißen die Inhaber einer der Tanzschulen in der Stadt.) Paula und ich werden wohl hingehen. Seid ihr dabei?“ Alle, die diese SMS bekommen, melden sich noch am selben Vormittag: Ansgar und Beate haben Besuch von Ansgars Mutter, die sich nicht zum Babysitten überreden lassen will. Sandra und Fritz gehen zu einem Gedenkgottesdienst für eine Bekannte; in Tanzlaune sind sie nicht. Ingrid fehlt der Tanzpartner: Franz-Heinrich ist auch übers Wochenende geschäftlich unterwegs. Anne und Heinz-Dieter kommen sowieso nicht: Hans Dieter hat sich vor zwei Wochen das Schlüsselbein gebrochen; „wir können rein technisch nicht“, steht neben den fünf traurigen Smileys in Annes Antwort. Claudine und Dieter finden (auch) keinen Babysitter. Ich rufe Paula an. Wir beschließen, alleine zur Party zu gehen. Aber „wir müssen uns ja nicht zwingen“, meint Paula. Ist völlig okay, dass sie sich das Hintertürchen aufhalten will, falls ihr Stimmungsbarometer am Samstag nicht auf Party steht. Wir hätten dann ja beide keinen Spaß. Trotzdem rolle ich innerlich mit den Augen. Weil ich Lust habe, auszugehen.

Am Samstag stelle ich meine Depressionsantennen auf volle Leistung. Beargwöhne jede einzelne Bewegung von Paula. Höre genau hin, wenn Paula spricht. Der kleinste Unterton soll mir auffallen. Bei der Planung für das Abendessen setze ich auf leicht(verdaulich)e Kost. Wäre nicht zum ersten Mal, dass uns nervöse Darmreaktionen einen Abend vermiesen. Das bemerkt Paula natürlich. Sie sagt aber kein Wort. Nicht ein fragender Blick streift den meinen. Das bemerke ich natürlich. Wir sind mittelmäßig angespannt, aber letztendlich – das sagen mir meine Antennen – haben wir beide Lust, auszugehen.

Wir lassen uns etwas Zeit. „Wir müssen ja nicht um Punkt Acht auf der Matte stehen“, meint Paula. Ich habe eine DVD aus der Videothek geliehen. Für die Kinder. Das ist billiger als jeder Babysitter. Und genau so effektiv. Ich lege die DVD ein und eine Tüte Erdnussflips auf den Couchtisch. Auf der Fahrt in die Stadt berichte ich Paula von dem neuen Projekt, das wir letzte Woche für die Firma an Land gezogen haben. Und darüber, dass ich in der kommenden Woche doch (noch) nicht zu diesem Neukunden fahren muss. Die Anspannung löst sich. Wir ergattern einen Parkplatz direkt vor der Tür der Tanzschule.

Das Parkett ist bestens gefüllt. Noch bevor wir uns einen Sitzplatz suchen, hole ich an der Bar eine große Flasche Wasser und ein Bierchen für mich. Als wir uns setzen, wird ein Tango Argentino gespielt. Können wir sowieso nicht. Zur folgenden Rumba fordere ich Paula auf. Die können wir ziemlich gut. Und es läuft besser: Wir kriegen alle Figuren hin. Wir schaffen auch ein paar Figuren im Jive, mit dem ich derzeit etwas auf Kriegsfuß stehe. Wir kommen richtig in Fahrt. Lassen keinen Tanz dieser Tanzrunde aus. Ziehen alle neun Tänze durch. Sogar den Wiener Walzer, den die DJane volle sechs Minuten ausspielt, um dann einen gehässigen Spruch über die Kondition der Anwesenden abzufeuern. Paula und mich kann sie unmöglich meinen. Wir lassen nur den Paso Doble aus; den können wir nämlich nicht. (Wollen wir auch nicht.) Nach einem kurzen Zug aus der Bierflasche – Paula nippt natürlich feminin am Wasserglas – nehmen wir die nächste Runde in Angriff. Langsamer Walzer, Tango, Wiener Walzer, Slow Foxtrott, Quickstep, Rumba, Chachacha, Salsa, Jive. In meinem Knochengebälk knackt es gehörig. Aber es macht mir unheimlich Spaß. So gut haben wir schon lange nicht mehr getanzt. So gut haben wir schon lange nicht mehr harmoniert. 

In einer Swingrunde (können wir auch nicht; beschließen aber „irgendwann auch mal einen Kurs zu machen“) geht Paula zur Toilette. Sie kommt zurück; ich staune. Sie hat ihre Bluse ausgezogen. Es ist mittlerweile ganz schön dampfig im Tanzsaal. In ihrem engst anliegenden schwarze Top sieht sie sehr sexy aus. Ich bilde mir ein, dass alle Kerle ihre Augen auf sie richten. Beim nächsten Langsamen Walzer sage ich ihr grinsend, dass sie dieses Top in der Öffentlichkeit nicht mehr tragen kann. Sie lacht und fragt: „Warum?“ „Ich kann“, lautet meine Antwort, „nicht zulassen, dass die anderen Männer alle neidisch werden“. Als wir aufbrechen, sind nur noch drei weitere Paar im Saal. Trotzdem gehen wir noch auf einen Cocktail in unsere Lieblingsbar. Wir sind – auf gut Deutsch – saumüde – reden nicht mehr sehr viel. Das müssen wir auch nicht. Ich sage Paula nur: Das hat mir sehr viel Spaß gemacht heute.“ „Ja, das war schön“, sagt Paula.

Für einen wunderbaren Abend lang habe ich Paulas Depression vergessen.

Samstag, 16. März 2013

Rituale

„Morgen! Morgen Kinder, geht’s in den Urlaub. Wir wollen früh losfahren. Damit wir nicht so spät am Atlantik ankommen. Außerdem müssen wir nicht so lange während der Tageshitze im Auto sitzen.“ Die Kinder sind aus dem Häuschen. Alle gehen früh ins Bett. Um vier Uhr in der Frühe gibt es Nutellabrot und Apfelschorle, um sechs Uhr sitzen alle voller Vorfreude im Auto. Der Kofferraum quillt schier über vor lauter Bade- und Sandelzeug. Kaum zehn Kilometer hinter dem Ortsschild geht es los. Plötzlich. Lautstark. Verletzend. Mama und Papa streiten. Die Kinder erstarren auf den Rücksitzen. Mucksmäuschenstill krallen sie ihre Hände in das Polster. Oder in Wuffi, den verlutschten Stoffhund. Dann – nur noch das Rauschen der Reifen auf dem heißen Asphalt. Der Fahrtwind pfeift an der Antenne. Der erste Urlaubstag ist im Eimer. Vielleicht sogar der ganze Urlaub. Erholung? Fehlanzeige!

Diese Geschichte vom Ehepaar „X“ erzählt uns Herr Meyer, der Paartherapeut, den Paula und ich konsultieren. Es hat mal wieder zu lange zu heftig zwischen uns gerau(s)cht. Herr Meyer referiert über Alltagsrituale: Ehepaar „X“ habe – vollkommen unbewusst – diesen Urlaubsstreit ritualisiert. Um die Kinder – ganz buchstäblich – mundtot zu machen. Damit Papa auf der langen Fahrt an den Atlantik (seine) Ruhe hat. Für zuhause gibt uns Herr Meyer die Frage mit, was wir ritualisiert hätten. Auf der Fahrt nach Hause müssen Paula und ich lachen: Wir? Rituale? Und womöglich welche, die wir unterbewusst für die Erfüllung egoistischer Bedürfnisse nutzen? So ein Quatsch mit Soße. Da sind wir sicher. 

Einmal pro Woche – das ist längst kein Geheimnis mehr – gehen Paula und ich zum Tanzzirkel. Leider ist ausgerechnet an diesem Tag obendrein viel los: Das ältere Kind muss zum Training gebracht und von dort wieder abgeholt werden. Letzteres eine halbe Stunde vor dem Beginn des Tanzabends um ein Viertel vor neun. Irgendwann zwischen Feierabend, Trainingsende und Tanzbeginn wollen wir – vor allem die Kinder – etwas futtern. Abgesehen davon haben Paula manchmal, ich immer einen langen Arbeitstag hinter uns. Um sowohl die nervliche als auch die zeitliche Belastung nicht unnötig in die Höhe zu treiben, haben wir den Ablauf dieses Abends verbindlich festgelegt: Ich komme eine halbe Stundefrüher „als„normal“ vom Büro nach Hause, Paula, das jüngere Kind und ich essen dann gleich zu Abend, danach hole ich das andere Kind vom Training ab, das dann alleine essen muss. (Jeder hat seinen Beitrag zu leisten!)

Seit Paulas Depression wieder hochkocht, fällt uns das Tanzen schwer. Zuweilen stehen wir uns nur noch im Wege herum. Wir tanzen eher gegen- als miteinander. Wir fetzen uns. Vor allen anderen. (Das ist nicht so peinlich, wie man denken könnte. Die anderen Paar fetzen sich auch. Wir kennen uns alle seit Jahren.) Und seit Paulas Depression wieder hochkocht, hat das Attribut „verbindlich“ seine Bedeutung eingebüßt, restlos: In einer Woche komme ich nach Hause, Paula hat noch nicht einmal damit angefangen, das Abendessen vorzubereiten. „Ich habe es einfach nicht geschafft.“ Ein andermal ist zwar ein Eintopf gekocht, aber Paula nicht da. „Ich habe den Feierabendverkehr auf dem Heimweg von einer Patientin unterschätzt.“ Klar, auch ich kam ein-, zweimal „normal“ nach Hause, also später, als verbindlich vereinbart: „Das Telefonat mit dem Kunden dauerte länger. Ich habe den Zug verpasst.“ Und so weiter, und so fort … So angestrengt ich auch nachdenke, an maximal einem der „Tanz“abende der letzten Saison sind wir einigermaßen ausgeruht zum Tanzzirkel gekommen. Wir stehen uns nur noch im Wege herum. Wir tanzen eher gegen- als miteinander. Wir fetzen uns. Dieser Abend ist im Eimer. Vielleicht sogar die ganze Saison. Entspannung? Fehlanzeige!

Obwohl wir vor ein paar Wochen „eigentlich weiter in den Tanzzirkel gehen“* wollten, haben wir unseren (Tanz)freunden in dieser Woche mitgeteilt, dass wir nächste Saison nicht dabei sein werden. Quatsch mit Soße gibt es eben nicht.


*siehe Post „Totentanz“ vom 2. Februar 2013




Dienstag, 12. März 2013

Du bist nicht allein

„Ach Scheiße Paul, was soll das jetzt wieder?“ Es geht um Sex. Paula will nicht. Paula kann nicht. Ihre Depression rezidiviert. Heftig. Seit drei Monaten. Alles Sexuelle ist ihr zuwider. Ich weiß das. Mein Schwanz weiß das nicht. Er weiß gar nichts. Er hat nicht die geringste Ahnung von Depression. So drängelt er sich zum ach-was-weiß-ich-wie-vielten-Mal zwischen Paula und mich. Hart und unerbittlich. Ohne Rücksicht auf Paulas Gesundheitszustand. Und ohne Rücksicht auf meine Vorahnung, was ich jetzt zu hören bekomme. „Weißt du, Paul“, fängt Paula an. „Herrgott noch mal, natürlich weiß ich …“, durchfährt es mich. Sofort macht mein Schwanz auf Weichei und zieht sich zurück. Macht er immer, wenn’s ernst wird. „Weißt du, Paul, ich möchte einfach nur in den Arm genommen werden“, fährt Paula fort, „du willst nur mit mir schlafen. Dich interessiert überhaupt nicht, wie es mir geht. Ich bin so alleine. So einsam. Ja, Paul ich bin einsam.“

Jede Antwort, die sinngemäß mit „Ja, aber …“ beginnt, ist jetzt sinnlos. Paula in den Arm zu nehmen, riskant. Selbst wenn sie es nicht als aufgesetzt empfinden würde, funkte sicher mein blöder Schwanz dazwischen. Paula schläft schnell ein. Menschen, die Schicht arbeiten, können immer schnell einschlafen. Ich atme flach, bewege mich nicht. Ich bin nicht da. Aber meine Gedanken sind da. Und mein Schwanz. Er fordert sein Recht. Er bekommt es. Von mir. In aller Schnelle, in der Heimlichkeit der Bettdecke. Paula schnarcht leise.

24 Stunden später liegen Paula und ich wieder nebeneinander. Jeder auf seiner Matratze, das Gräble – so heißt hier die Matratzenritze – zwischen uns. Ich habe Lust, mit Paula zu schlafen. Das letzte Mal ist vier Wochen her. Mein Schwanz würde mich bei dem Vorhaben trefflich unterstützen. Ich kenne ihn lange genug, um sein hitziges Klopfen richtig zu verstehen. Aber ich unternehme nichts. Ich hoffe nur. Auf ein Signal von Paula. Sie dreht sich zu mir um. Jede Faser meines Körpers spannt sich. Nichts. Irgendwann ein Kissenrascheln. Strom in meinem Körper. Nichts. Ein tiefes Einatmen. Nichts. Ich wühle in meinem Kissen. Absichtlich auffällig. Vielleicht jetzt? Nichts. Nichts. Nichts.

Mir fällt ein, dass wir den Computer angelassen haben. Leise stehe ich auf, mit langsamen Bewegungen einer Hand suche ich meine Brille auf dem Nachttisch, mit der anderen ziehe ich die Wolldecke vom Sessel unter dem Fenster. Auf der Treppe nach oben setze ich die Brille auf, mache einen großen Schritt über die sonst knackende fünfte Stufe. Am Bildschirm stelle ich fest, dass ich zweieinhalb Stunden auf ein Signal von Paula gewartet habe. Ich checke meine E-Mails. Natürlich hat mir mitten in der Nacht niemand mehr geschrieben. Bei Facebook ist Samara online, eine „Freundin“, die an Depressionen leidet. Wir chatten. Ihr geht es elend, weil sie Angst hat, ihr Partner könne sie verlassen. Ich frage sie, warum sie diese Angst hat. „Mir ist alles Sexuelle zuwider“, schreibt sie, "ich weiß gar nicht, wie der arme Kerl das aushält so lange ohne. Ich will ja nie mit ihm schlafen. Aber er will immer. Aber ich kann doch nichts machen, ich habe diese Depression. Es würde mich nicht wundern, wenn er sich `ne andere sucht. Ich würde es sogar verstehen. Es wäre ja nur wegen dem Sex und nicht, weil er mich nicht mehr liebt.“

Es ist 2:30 Uhr. Ich drücke die „Löschen“-Taste. Der Satz, „Vielleicht ist aber gerade Sex entscheidend für eine Liebe“ verschwindet auf Nimmerwiedersehen aus der Chatbox.

Nachdem ich um ca. 3:00 Uhr (zurück) ins Bett komme, liege ich (immer) noch ein Weilchen wach. Ich denke an Sex. Mit allen möglichen Frauen, die ich kenne. Mein Schwanz fordert sein Recht. Er bekommt es. Von mir. In aller Schnelle, in der Heimlichkeit der Bettdecke. Paula schnarcht leise.


Montag, 11. März 2013

Reizschwellen

„Ich möchte nicht das Gefühl haben, ich käme in eine Klinik, wenn ich nach Hause komme!“

Der Spruch trifft. Und zwar direkt in Paulas zentrales Nervensystem. Ihre Reaktion ist eindeutig. Kreischend wie eine 13-Jährige auf der Gefällstrecke einer Achterbahn vermittelt sie mir, was sie von Kritik an ihrem Ordnungssinn hält. Ich blaffe dagegen. Ebenso lautstark, wenngleich in tieferer Tonlage. Der Inhalt meines „Diskussions“beitrags lautet in Kürze etwa so:

Grundregeln der Toleranz im Allgemeinen und die der praktizierten Toleranz in einem soeben gegründeten gemeinsamen Haushalt im Speziellen:

Paragraf 1:
Paul legt seine Sachen dahin, wohin er erstens will und zweitens, wo er sie wiederfindet. Paula räumt Pauls Sachen, die er irgendwo hingelegt hat, nicht weg. Paula legt ihre Sachen dahin, wohin sie will. Diese Sachen kann sie auch wegräumen, denn Paul wird es nicht tun.

Paragraf 2a:
Paul saugt, putzt und staubt ab, sobald seine Hygienereizschwelle überschritten wird. Alle diese Tätigkeiten verrichtet Paul nach bestem Wissen, Gewissen und eigenem Sauberkeitsempfinden.

Paragraf 2b:
Paula saugt, putzt und staubt ab, sobald ihre Hygienereizschwelle überschritten wird. Alle diese Tätigkeiten verrichtet Paula nach bestem Wissen, Gewissen und eigenem Sauberkeitsempfinden.

Paragraf 2c:
Paul respektiert Paulas Sauberkeitsempfinden. Paula respektiert Pauls Sauberkeitsempfinden. Beides nicht zuletzt im Sinne der Effektivität.

Paragraf 3:
Die Regelungen des Paragrafen 2 gelten in gleicher Form für das Drapieren von Sofakissen bzw. das ästhetische Empfinden darüber.

Soweit (m)ein seinerzeit blauäugiger theoretischer Ansatz. In den weiteren 18 Jahre unseres bis heute gemeinsam geführten Haushalts treten diese "Regeln" nie in Kraft. Ich gewöhne mir an, meine Sachen dorthin zu legen, wo ich erstens will, zweitens ich sie wiederfinde und drittens Paula sie nicht stören. Das Saugen, Putzen und Abstauben teilen wir auf. An Wochenenden, an denen Paula Dienst hat, mache ich das. Trotzdem übernimmt Paula den Löwenanteil. Einfach weil sie tagsüber öfter zuhause ist. Die Betonung liegt hier auf tagsüber. Im Sinne von: Solange kein anderer zuhause ist, der dabei stört. Oder parallel die Kinder betüddelt werden wollen. Die Draperie der Sofakissen überlasse ich Paula. Seit Jahren.

Wir stehen auf. 6:20 Uhr. Wie jeden Werktagmorgen. Ich quäle mich die Treppe hinunter, drehe das Radio an, schlurpe in die Küche, mache Frühstück. Als ich das Tablett zum Essplatz trage, kommt Paula die Treppe herunter und ... zupft erst einmal den Läufer auf dem Sideboard zurecht. Als erste Handlung des Tages. Noch vor der ersten Tasse Kaffee. Sie geht zum Sofa und drapiert die Kissen. Ich lasse den Zucker in meine Tasse rieseln. Von sehr weit oben.

Ich komme nach Hause. Neben der Tür zur Toilette steht der Putzeimer. Ich verstehe die Welt nicht mehr: Am Wochenende hatte Paula Dienst, ich habe geputzt. Das war gestern. Ich schlucke, aber verhalte mich unauffällig. Nach dem Abendessen räume ich mit dem Jüngsten den Tisch ab, das Geschirr in die Spülmaschine. Ich wische den Esstisch und packe mich zum Rest der Familie vor die Tagesschau. Der nachfolgende Film ist spannend. In einer Werbepause steht Paula auf. In der Küche holt sie den Lappen. Um den Esstisch abzuwischen. In meinem Gesicht wachsen Pickel. Glaube ich. Ich habe keine große Lust mehr auf den Film. Ich gehe nach oben ins Schlafzimmer. Ohne Plan. Paula hat wieder die Klamotten auf meinem „Kann-ich-Morgen-nochmal-anziehen-Sessel“ geordnet. Wie jeden Tag! Heute hängen sogar die beiden Sweatjacken auf einem Kleiderbügel am Schrank. Ich lasse mich auf's Bett fallen. Auf dem Nachttisch liegt ein Dutzend Bücher. Gut die Hälfte davon über Depression.

In einem habe ich gelesen, dass depressive Menschen häufig Zwangshandlungen an den Tag legen.

Freitag, 8. März 2013

Geht Paul alleine aus? (Auf Wunsch meiner Leser)

Viertes Semester, Praktikum bei Becker Sperling und Partner. Das ist eine Werbeagentur. Klein, fein, gerade gegründet. Ich kenne Herrn Sperling von einem früheren Praktikum. Wir organisieren den Tag der offenen Tür eines großen Autohändlers. Ich darf fast alles selber machen. Nun ist er da, der große Tag, die Bude ist brechend voll. Die Leute sind begeistert. Herr Hörst, der Autohändler, ist begeistert. Er lädt uns zu einem Umtrunk nach der Veranstaltung ein. Das gesamte Personal ist da. Auch Carine. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass sie Carine heißt. Sie wird mir als „unsere Juniorverkäuferin, Frau Haske“ vorgestellt. Wow, eine Frau als Autoverkäuferin. Respekt. Eine so junge Frau. Drei Jahre jünger als ich. Das weiß ich zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht. Und so cool. Und so hübsch. Und so nett. Und, und, und … ach herrje. Ich verliebe mich in sie. Noch bevor der erste Toast auf diesen Tag der offenen Tür im Autohaus Hörst ausgebracht ist.

Ich verliebe mich über beide Ohren! Am Montag rufe ich im Autohaus an. Ich frage direkt nach Frau Haske. Sie ist etwas überrascht, aber sie sagt „ja“ zu meiner Einladung zum Bier. Wir treffen uns. Wir plaudern ein bisschen aus unseren bisherigen Leben. Ich kriege nicht so viel mit. Ich schmachte sie an und versuche, nicht vom Barhocker zu kippen. Immerhin: Ich nenne sie jetzt Carine. Und ich weiß, dass sie drei Jahre jünger ist als ich. Am nächsten Tag mache ich mit meiner derzeitigen Freundin Schluss. Ein Tränendrama. Carine sagt noch ein paar Mal „ja“ zu meinen Einladungen. Eines Abends erzählt sie mir von ihrem Freund. Das einschießende Adrenalin betäubt mich. Trotzdem lade ich sie nochmals ein. Zu einem martialischen Aktionstheater. Flammen, Blut und Lärm. Carine bietet an, mich danach nach Hause fahren. Sie hat einen Firmenwagen. Als coole Juniorautoverkäuferin gehört sich das. Ich sage „ja“. Auf der Fahrt frage ich sie, warum sie sich mit mir trifft. Sie weiß es nicht. Ich fühle mich ausgenutzt. Gekränkt. Ich flippe aus. Ich schreie sie an. Ich vergesse mich. Auf halber Strecke soll sie mich rauslassen. Ich knalle die Autotür so heftig zu, dass sie wieder aufspringt. Nach dem zweiten Türschließversuch fährt Carine davon. Das ist 23 Jahre her. Ich habe sie nie wieder gesehen.

Schulfest. Es ist eine private Schule. Klein, überschaubar. Viele Eltern kennen sich. Die meisten haben ihre Kinder auf Empfehlung anderer Eltern hier eingeschult. Paula hat keine Zeit, ich gehe mit den Kindern alleine hin. Ich sitze mit Freunden zusammen. Eine Bekannte von ihnen kommt in dem Moment dazu, als ich aufstehe, um mir einen Kuchen zu holen. Am Kuchenstand höre ich von hinten eine Stimme: „Kennen wir uns nicht irgendwie von früher?“ Ich denke: „Scheiß Anmache“ und drehe mich um. Neugier siegt. Die Stimme gehört der Bekannten unserer Freunde. Es ist … Carine. Das einschießende Adrenalin betäubt mich. Ich sage: „Ja, ja klar.“ Sie sagt: „Weißt du noch, wie ich heiße?“ Was für eine Frage! Hallo? „Carine Haske“, sage ich, „vielleicht heißt du kraft Heirat jetzt anders, aber das weiß ich natürlich nicht.“ Ihr immer noch hübsches Gesicht formt eine anerkennende Miene: „Horum, ich heiße jetzt Horum“. Diesen Namen fand ich schon seltsam, als sie mir vor 23 Jahren von ihrem Freund erzählt hatte. Wir plaudern ein bisschen aus unseren Leben. Und wir verabreden uns. Einmal. Zum Kaffee in der Mittagspause. Ein zweites Mal. Beim dritten Mal treffen wir uns in der renovierten wiedereröffneten Churchill-Bar. Abends. Sie erzählt mir von ihrem Mann. Sie haben Knatsch. Er fühle sich nicht mehr geliebt. Später entschuldige ich mich für meinen theatralischen Abgang vor 23 Jahren.

Am Donnerstag gibt es ein Konzert von Kakkmaddafakka (Die heißen wirklich so.) Ich habe Lust hinzugehen. Ich habe ein Faible für junge Indiebands. Und ich mag melodiösen Gesang. Weil diese Leidenschaft kaum einer meiner Freunde teilt, lade ich Carine ein. Sie sagt „ja“. Am Mittwoch haben Paula und ich Streit. Es geht mal wieder um Thema Nummer Eins. Sie fühlt sich bedrängt, ich mich – ganz buchstäblich – unbefriedigt. Ein Wort gibt das andere, wir kommen von Höckscken auf Stöckscken. Es eskaliert und prompt sind wir mitten in der Nacht lautstark in eine Grundsatzdiskussion über Beziehung, Ehe, Sex und Depression verwickelt. Ich wünsche mir ein Beißholz. Irgendwann gebe ich einfach keine Antwort mehr. Es ist nur noch Schweigen. Im Grunde bis Freitagfrüh.

Carines bestickte Cowboystiefel dünken mir etwas übertrieben. Im Publikum stehend sehe ich sie aber nicht. Nach dem dritten Bier aus der Flasche sind mir die Dinger dann egal. Carine zieht ihre Jacke aus. Ich stehe etwas versetzt hinter ihr. Ich sehe sie an. Nein – ich scanne sie ab. Sie ist schlank. Das gefällt mir. Kleine Brüste sowieso. Ich hole mir noch ein Bier. Carine will keines mehr. Ich platziere mich genau da, wo ich vorher stand. Bei einer Gänsehautballade lehnt sich Carine ganz leicht nach hinten. Bilde ich mir zumindest ein. Unsere Schultern touchieren sich. Das bilde ich mir nicht ein. Ich habe eine unbändige Lust, sie zu berühren. Eine Hand habe ich an der Bierflasche. Die andere in der Hosentasche. Ich knülle den Futterstoff zusammen, knete ihn. Ich ziehe das Bier in Rekordzeit aus der Flasche.

Nach dem Konzert gehen wir … noch ein Bier trinken. Ich sitze ihr gegenüber. Wir sehen uns an. Ich frage: „Alles klar bei euch zuhause?“ Sie erzählt mir, dass ihr Mann ans Ausziehen denke. Aber zunächst gingen sie mal in Urlaub. Ob sie sich und ihren Mann, sich und ihre Kinder oder alle zusammen meint, bleibt offen. „Und bei euch?“ kommt es messerscharf retour. „Och, naja“, sage ich, „man hat halt Höhen und Tiefen.“ Nachdem ich die fünfte Flasche Bier geleert habe, bietet Carine mir an, mich zum Bus zu fahren. Ich sage „ja“. Am Bahnhof verabschieden wir uns. Ich lasse die Autotür leise ins Schloss fallen. Carine fährt davon.

Wieder zuhause liege ich mit offenen Augen neben Paula im Bett. Sie schläft. Atmet ruhig. Ich lege meine Hand auf ihren Unterarm, der unter der Decke hervorlugt. Ich denke: „Hey Alter, was machst du?“ Das ist vier Wochen her.

Ich habe Carine seither nicht wiedergesehen.


Entlastung kostet nur einen BH

Wie eine Trauernde vergräbt Paula ihr Gesicht in beiden Handflächen. Die Ellenbogen auf den Esstisch gestützt. Sie sitzt nicht, sie kauert. Ihr Körper spricht klar und deutlich zu mir: „Lass’ mich in Ruhe! Sprich mich nicht an! Fass mich nicht an!“ Ich lasse sie in Ruhe. Ich spreche sie nicht an. Ich fasse sie nicht an. Ich setze mich aufs Sofa. Ich blättere in der Fernsehzeitschrift. Den Tipp-des-Tages-Film haben wir schon dreimal gesehen. Wäre ohnehin erst um 22:45 Uhr zu Ende – kranke 40 Minuten Werbung! Oder 40 Minuten kranke Werbung – wie auch immer. Ach, am liebsten sähe ich mir die Tierdokumentation im Dritten an. Das fordert nicht so viel Konzentration und die Kinder kämen früher ins Bett. Ich wende mich Paula zu, die in der Trauerstellung ausharrt. Ich sondere ein „Hmm?“ ab. Fragend. Abwartend.

Überlastung ist das Stichwort. Mal wieder. Der Schichtdienst, der Job unter Personalmangel im Team, die Überstunden, die verständnislose Pflegedienstleitung, die Kürzungen im Klinikhaushalt, der Freiberuf, die Fahrerei zu den Privatpatienten, die Kinder, deren pubertäres Gehabe, das Gehassel um die Hausaufgaben, die Gespräche mit den Lehrern, die Sitzungen mit dem Therapeuten unseres ADS-geplagten Ältesten, der Chor, der Tanzzirkel, die Wäsche, das Putzen, das Einkaufen, das Kochen … Jetzt muss auch noch das Auto für zwei Tage in die Werkstatt! Der Lenkwinkelsensor ist kaputt. Aha, interessant! Bis eben wusste ich nicht mal, dass es so etwas gibt. Zu guter Letzt: „… und überhaupt!“ Oh, ja: „… und überhaupt!“ Was soll ich sagen? Soll ich etwas sagen? Kann ich dazu etwas sagen? Vor allem etwas, was ich in nicht schon gefühlte 6.570 Mal (= 18 gemeinsame Jahre, einen Kommentar pro Tag zu diesem Thema) gesagt hätte?

Es geht um die Kumulation von Verantwortlichkeiten, meint Paula. Ich meine, es geht ums Müssen. Und ums Nichtmüssen. Vieles muss tatsächlich. Zuallererst selbstverständlich die Arbeit; der Schichtdienst gehört (leider) dazu. Ohne die Privatpatienten müssten wir auf Vieles verzichten. Sicher. Vieles kann. Weil es organisatorisch leichter ist. Ich sitze den ganzen (Werk)tag im Büro. Termine bei Lehrern, Therapeuten und Autowerkstätten kann Paula leichter wahrnehmen. Sie hat eine 50-%-Stelle. Der Rest? Der Rest muss nicht. Genauer gesagt: Paula muss nicht. Besser gesagt: Sie müsste nicht.

Wäsche machen kann ich bestens. Auch wenn ich mal einen BH bei 60°C gewaschen und damit ruiniert habe. Nobody is perfect. Was aber, liebe Freunde, ist schon ein BH zugunsten der Entlastung von Paula? (Um weiteren Fragen vorzubeugen: Bügeln kann ich perfekt. Hat mir meine Mutter beigebracht, nachdem ich ihr als Jugendlicher verboten hatte, meine Unterwäsche (!) zu bügeln.) Putzen? Hasse ich. Es nervt, einen Teil des Wochenendes für Reinigungsarbeiten zu verschwenden. Kann ich aber. Kochen sowieso. Nicht nur meine Tapas sind in unseren Freundeskreisen legendär. Farfalle mit Pesto aus dem Glas schaffen sogar die Kinder. Paula weiß das. Alles. Und trotzdem macht sie alles selbst. Immer. Ich sondere wieder ein „Hmm“ ab. Bestätigend. Bestimmt.

Auf „Das Vierte“ gibt’s den Westernklassiker „Rio Bravo“ mit John Wayne. Habe ich schon dreimal gesehen. Fordert nicht mehr Konzentration als die Tierdokumentation. Ich frage Paula, ob ich Morgen fürs Abendessen einkaufen soll.

Ohne das Gesicht aus den Händen zu nehmen antwortet Paula: „Nein, geht schon.“


Dienstag, 5. März 2013

Niemandsland

Kühlschränke. Immer wieder Kühlschränke. Und zwar von innen. Die Kamera schaut von innen auf die Kühlschranktür. (Komischerweise ist das Licht bereits an.) Die Tür wird geöffnet. Von einem Junggesellen. Meistens. Immer aber von jemandem, der alleine lebt. Zwischen diesem entweder enttäuscht oder enerviert dreinschauenden Jemand und dem Butterfach in der Tür ist lukullisches Niemandsland: Bestenfalls eine seit Tagen angebrochene Milchpackung oder eine viertel Pizza „Cheese’n’Onions X-tra-Large“ im Karton sind am unteren Bildrand zu sehen.

In den USA gehört diese Situation wohl zum Alltag. Warum sonst sollten uns unzählige Hollywood-Filme diese stereotype Szene so häufig zeigen? Als ich noch alleine lebte, gehörte sie auch zu meinem Alltag. Ganz buchstäblich sogar. Alle Tage lukullisches Niemandsland. Das hat mir nichts ausgemacht. Hatten die Geschäfte geöffnet, habe ich auf die Schnelle etwas eingekauft. Hatten sie geschlossen, habe ich meistens den lieben Kahli angerufen. Eigentlich heißt er Sebastian Kahl; niemand nennt ihn so. Außer seiner Mutter vielleicht, wenn es etwas Ernstes zu besprechen gibt – das aber vermute ich nur. Mit Kahli kann man (auch heute noch, fast 20 Jahre später) vortrefflich unvertretbar überdimensionierte Rib-Eye-Steaks mit Pommes Frites und Kräuterbutter essen. In der Kneipe am See.

„Oder Gyros beim Griechen!“ Es ist Samstag und Paula hat Spätschicht. Ich habe heute gegen Mittag eingekauft. Lust- und phantasielos, angeekelt fast. Ein paar Nudeln, ein Pesto im Glas, die Notration eben. Der Kater nach dem Herrenabend gestern steckt mir gehörig in Knochen und Schädel. Erst jetzt am späten Nachmittag habe ich Appetit. Auf etwas Ordentliches. Im Kühlschrank nur die Notration. „Also, dann lass’ uns zum Griechen gehen“, antworte ich auf das Gejohle der Kinder.

Paula kommt kurz vor Mitternacht ins Schlafzimmer. Die ausgeprägte Souflaki-Knoblauch-Wolke, die aus meinen Poren in den Raum dringt, gibt ihr den Rest. „Was hast du denn gekocht?“, entfährt es ihr. „Nichts, wir waren beim Griechen“, antworte ich wahrheitsgemäß. Schon aus dem Flur hallt Paulas abschließendes „Boah nee“. Ich liege im Bett und übersetze: "Boah nee", das heißt erstens: Verdammt noch mal Paul, jetzt habe ich die ganze Woche akribisch auf das Haushaltsgeld geachtet. Habe keine Sperenzien gemacht beim Einkaufen und keine beim Kochen. Und jetzt kommst du, und gehst mit den Kindern einfach mal so essen. Der Herrenabend gestern war sicher auch nicht umsonst. Zweitens heißt „Boah nee“: Ich komme mir irgendwie blöde vor. Ich stelle mich hier jeden Tag an den Herd. Paul, hörst du? Jeden Tag. (Silben einzeln betont!) Und das obwohl ich keinen Abend vor 23 Uhr zuhause war. Du, Paul, kommst hier nur reinspaziert und setzt dich an den gedeckten Tisch. Ich fühle mich so wertlos. So geringgeschätzt. Ich komme mir vor wie die Hausdienerin. Und du, du Paul, du hast nichts Besseres zu tun, als mit den Kindern essen zu gehen.

Ich finde, die Kausalkette stimmt nicht. Das behalte ich für mich. Nicht etwa, weil ich einen nächtlichen Streit vermeiden will. (Oder gar eine neue Schwade „Mykonos-Platte“.) Nein, ich behalte das für mich, weil ich Paula verstehe. Jetzt in diesem Moment verstehe ich dieses knappe, verhallte „Boah nee“. Während der Woche habe ich es hingegen mal wieder nicht hingekriegt, mich in sie hineinzuversetzen. Nicht eine Spur. Ich habe es nicht geschafft, mir klar zu machen, was es für sie bedeutet, im Grunde die ganze Woche im Voraus zu planen, alle diese Termine wahrzunehmen oder gar vorzubereiten und den Haushalt zu managen. Aber ich habe es geschafft, Paulas Depression zu verdrängen, ihre Sprunghaftigkeit und ihr mangelndes Selbstwertgefühl. Glückwunsch, Idiot.

Sollte ich mal wieder an einem Wochenende Herrenabend haben, an dem Paula Spätschicht hat, gibt’s Käse-Zwiebel-Pizza mit Milch.

Samstag, 2. März 2013

Nachtgedanken

Schickes Hotel. Sehr neu, sehr stylisch. Die Klimaanlage verbreitet, vielleicht einen Tick zu intensiv, eine Brise artifiziellen Karibikduft. Das ist nicht unangenehm. Das Vier-Sterne-Bett ist bequem. Mithilfe der Kissen von der zweiten Betthälfte kann ich meine Liegeposition so einrichten wie zuhause. Trotzdem liege ich wach. In Hotels schlafe ich nie besonders gut. Fremde Geräusche. Ein Güterzug rattert in der Nähe vorbei. Morgen die Wettbewerbspräsentation. Fast 200 PowerPoint-Folien. Wenn wir den Kunden gewinnen, wären wir die Sorgen für mindestens das erste Halbjahr los. Der Chef im Zimmer nebenan – Nr. 303. Sicher sitzt er noch oder schon wieder am Laptop. Ändert die Präsentation. Vielleicht schläft er auch. Wir sind erst um 23 Uhr aus dem Hotelrestaurant raus. Eine Stunde hinter Zeitplan. Und eine Flasche Spätburgunder über Vorgabe. Das Handy-Display zeigt 4:06 Uhr. Scheiße, erst viereinhalb Stunden geschlafen. Oder nur. Falls ich es nicht schaffe, wieder einzupennen. Meine Augenlider fühlen sich dick, die Lippen trocken an. Die Abfallprodukte des Spätburgunders drücken in der Blase. Ich tapere ins Bad. Ohne das Licht anzuknipsen. Sonst fängt diese verfluchte Abzugsanlage an zu schwirren. Zehn Minuten lang, nachdem das Licht abgeschaltet wurde.

Die Kollegin aus der Wissenschaftsabteilung, die uns begleitet, hat Zimmer Nr. 316. Sie geht mit mir nach draußen, um gemeinsam (je) eine Zigarette zu rauchen, nachdem die anderen schon weg sind. Auf dem Weg zurück stiefelt sie einfach an ihrem Zimmer vorbei, weiter neben mir her. Ich frage: „Hast du nicht 316?“ Sie lispelt ebenso angesäuselt wie schamhaft etwas wie: „Achso ja, ja … hihihi.“ Wir sagen „Gute Nacht. Und: bis Morgen.“ Es ist nicht das erste Mal, dass ich das Gefühl habe, sie hätte es lieber, ich fragte „Zu dir oder zu mir?“

Auf dem Bildschirm meiner dicken Augenlider läuft ein Kopfkinofilm mit Paula. Der Spätburgunder hat mich wuschig gemacht. (Ja sicher, der Spätburgunder! Was sonst?) Bis auf heute lag ich selbstverständlich jede Nacht dieser Woche tatsächlich neben Paula. Jede Nacht war ich zu müde, um wuschig zu sein oder um ins Kopfkino zu gehen. (Fast 200 PowerPoint-Folien wollen schließlich vorbereitet sein.) Jetzt bin ich im Kopfkino. Morgen Abend bin ich wieder zuhause. Die Präsentation ist dann vorbei, die Anspannung weg. Aber Paula ist auf dem Kongress. Bis Übermorgenabend. Dann ist sie ausgelaugt. Sie hat mir eine SMS geschrieben: „Ich bin jetzt schon ganz überladen.“ Das war vier Stunden nach dem Beginn des Kongresses.

Das Handydisplay zeigt 5:13 Uhr. Das Handmännchen kommt vorbei. Danach kann ich zwei Stunden pennen.

Freitag, 1. März 2013

Beipackzettel ganz heiß

Zurzeit lese ich viel. Über Depression natürlich. Meist mache ich das im Zug auf dem Weg zur oder von der Arbeit. Das sind ca. 40 Minuten pro Tag. Da ist in der letzten Zeit Einiges zusammengekommen – an Lesezeit und an Büchern. Auch in dem Buch, das ich heute angefangen habe, heißt das erste Kapitel sinngemäß „Die Depression und ihre Symptome“. Ich überblättere dieses Kapitel. Ich weiß bestens, was drin steht. Ich erlebe es jeden Tag. An und mit Paula.

Neben den üblichen Hauptverdächtigen wie Freud- und Gefühllosigkeit, Verzweiflung, Angst (vor diesem Tag, seinen Anforderungen und/oder vor der Zukunft), übersteigerten Befürchtungen, Grübeln, Selbstvorwürfen, Minderwertigkeits- und Schuldgefühlen oder Hilfs- und Hoffnungslosigkeit stehen dort: Zittern, starke Erregung, schwere Überempfindlichkeitsreaktionen, Blässe, Schlaflosigkeit, Nervosität, Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen, vermehrtes Schwitzen, Sehstörungen, Schwäche, Konzentrationsprobleme, verminderte Libido, Menstruationsschmerzen, Appetitmangel, Teilnahmslosigkeit, Migräne, häufiges Wasserlassen, Muskelschmerzen und Suizidgedanken. Das habe ich alles schon (mindestens) einmal gelesen.

Auf der Garderobe liegt ein Zettel. Er fällt mir sofort ins Auge. Denn erstens ist er rot. Zweitens steht eine befremdliche Nachricht drauf. Paula hat sie an unser älteres Kind gerichtet: „Holst du bitte mit diesem Abholschein dieses Medikament für mich in der Apotheke ab.“ Der Abholschein ist weg. Stattdessen liegt – drittens – „dieses Medikament“ daneben: Citalopram. Ein Antidepressivum. Paulas erstes. Sie war heute bei Ihrer Ärztin.

Jetzt ist Paula bei einer Freundin. Ich mache Feuer im Kamin, setze mich aufs Sofa, nehme mir die Zeitung und starre die Titelseite an. Dann starre ich zu der Medikamentenschachtel hinüber. Die Kinder sind schon im Bett. Trotzdem sehe ich mich um, ob nicht jemand im Wohnzimmer umherschleicht. Ich nehme die Packung zwischen Daumen und Zeigefinger. Vorsichtig, misstrauisch. Was steht drauf? Welche Farbe hat das Logo? Welche Firma stellt das Präparat her? Ich nehme nichts davon wahr. Obwohl ich die Schachtel seit Minuten in meiner Hand drehe und wende. Ob ich es schaffe, den Beipackzettel in den Originalzustand zurückzufalten, nachdem ich ihn studiert habe? (Blödsinn, das schafft man nie.) Ich zögere. Eine Sekunde nur. Dann nestle ich die Klappe an der Schachtelunterseite auf und den Beipackzettel heraus. Er ist gut und gerne 15 Zentimeter breit und 45 lang. Ach du Schande!

Mein Blick huscht über die in Augenpulver gedruckte Litanei pharmazeutischer Informationen für Anwender. Beim Absatz „Nebenwirkungen“ bleibe ich hängen. Seltene, gelegentliche, häufige und sehr häufige gibt es da. Und zwar: Zittern, starke Erregung, schwere Überempfindlichkeitsreaktionen, Blässe, Schlaflosigkeit, Nervosität, Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen, vermehrtes Schwitzen, Sehstörungen, Schwäche, Konzentrationsprobleme, verminderte Libido, Menstruationsschmerzen, Appetitmangel, Teilnahmslosigkeit, Migräne, häufiges Wasserlassen, Muskelschmerzen und Suizidgedanken. Das habe ich alles schon (mindestens) einmal gelesen.

Mit zittrigen Händen versuche ich, den Beipackzettel in seine Ursprungsfaltung zurückzuzwingen. Keine Chance. Ich spurte nach oben. Zum Bügelbrett. Ich pople den Beipackzettel irgendwie in ein schachtelkompatibles Format. Mit dem maximal aufgeheizten Bügeleisen presse ich das dünne Papier auf scharfe Kante. Im Wohnzimmer knödle ich es in die Packung. Ich kehre zur Zeitung zurück. Den Leitartikel schaffe ich gerade so. Dann starre ich wieder diese Packung an. Ich lege die Zeitung auf meine Knie. Ich starre diese verdammte Packung an. Ich habe die Arme jetzt vor der Brust verschränkt. Ich starre. Ich lausche in das Dunkel des Treppenhauses. Niemand schleicht herum. Paula ist weg. Ich verharre. Dieses verdammte Medikament.

Mein Blick geht hinüber zum Feuer im Kamin.