Freitag, 22. März 2013

Chorchaos/Chaoschor

Totenstille. Ich wage es kaum, die Wohnungstür ins Schloss fallen zu lassen. Ich benutze die Klinke. So wie ich es den Kindern immer sage. Die Kinder sind nicht da. Wahrscheinlich irgendwo kicken im Dorf. Auch von Paula keine Spur. Sie hat sich hingelegt. Das macht sie immer, wenn sie Nachtschicht hat. Das kommt mir ganz gelegen. Ich habe in der Mittagspause eine neue CD gekauft: Randa and the Soul Kingdom „What you need“. Die kann ich jetzt ungestört hören. Ich bin hundemüde. Die Woche war pickepacke voll mit Terminen. Für uns alle. Ich nicke ein. Erst beim achten Song, „Be yourself“, werde ich wieder wach. Nicht wegen des knallharten Soulrhythmus‘. Paula kommt die Treppe herunter. Im Bademantel. Ich rapple mich auf. Drücke ein mattes „Hallo“ ab. Paulas „Hallo“ ist nicht weniger matt. Ich stehe etwas verloren in der Küche herum, während sie die Kartoffeln aufsetzt.

„Ich habe den Kindern gesagt, sie sollen um halb sieben hier sein“, sagt Paula, wir müssen heute früher essen. Ich muss um halb acht zur Generalprobe vom Chor“. Ja, weiß ich“, sage ich, obwohl ich nicht weiß, wann die Probe anfängt. „Soll ich“, fragt Paula, „meine Plünnen für den Nachtdienst gleich mitnehmen, falls die Probe länger dauert. Oder soll ich nochmal nach Hause kommen, bevor zum Dienst gehe?“ De facto bleiben zwischen Probenende und Aufbruch zum Dienst 35 Minuten. Ich analysiere: „Naja, es gibt doch nur zwei Möglichkeiten: Wenn du dein Zeug gleich mitnimmst, kannst direkt zum Dienst fahren ohne in Stress zu kommen. Wenn du nochmal heimkommen willst, musst eben rechtzeitig gehen, egal ob die Probe zu Ende ist.“ „Ja, stimmt“, sagt Paula tonlos. Mehr nicht.

Während sie ansetzt, die Zutaten für die Beilagen aus dem Kühlschrank zu holen, klagt sie weiter: „Ach, das klappt alles gar nicht. Die Tenöre haben gestern in der Probe komplett versagt.“ Ich nehme ihr den Lachs ab, „lass nur, ich mach‘ das. Du kannst dich ja anziehen.“ Sie zieht sich an und kommt danach wieder in die Küche: „Ich habe überhaupt keine Lust, in die Probe zu gehen.“ Ich wasche die Tomaten und nehme diesen Satz zur Kenntnis. Mehr nicht.

Die Jungs kommen nach Hause. Stinken wie die Otter und sehen auch so aus. Wir scheuchen sie ins Bad. Nachdem sie sich eher notdürftig den Bolzplatzmatsch von den Gliedern gekratzt haben, gibt es Abendessen. Sie schildern ihre Heldentaten, sind ziemlich aufgekratzt und eine Spur zu laut. Werde ich mich nicht dran gewöhnen. Paula stochert in der einzigen Kartoffel, die sie sich genommen hat: „Ich habe irgendwie keinen Hunger.“ Den Kindern ist die Bananenflanke von Samuel in der zweiten Halbzeit wichtiger. Ich sehe Paula an. Mehr nicht.

Wir sitzen noch ein paar Minuten zusammen, die Kinder beraten sich nun über das TV-Programm des Abends. Paula unterbricht die Debatte: „Hoffentlich ist es Morgen nicht so kalt in der Kirche während des Konzerts. Ich weiß gar nicht, was ich anziehen soll. Vielleicht eine Hose; im Rock habe ich beim letzten Konzert gefroren.“ Mir scheint der Gedanke folgerichtig: „Ja, mach doch“, sage ich. Mehr nicht.

Pünktlich um halb acht bricht Paula zur Probe auf. Die Tasche für den Dienst nimmt sie nicht mit. Die Kinder ziehen sich einen Bud-Spencer-&-Terence-Hill-Filme rein. Ich surfe im Internet. Der Film ist gerade zu Ende, als Paula zurückkommt. Die Art, wie sie die Handtasche auf den Garderobenstuhl knallt, nimmt ihre Stimmung vorweg. Sie explodiert: „Ich weiß überhaupt nicht, wie Günter (das ist der Dirigent) sich das vorstellt. Da klappt nichts. Das Orchester hat einen Scheiß gespielt. Im Chor war Vollchaos. Wir sind halt keine Profis. Wir brauchen mehr Proben. Das geht so was von in die Hose Morgen.“ Sie setzt sich an den Tisch. Vergräbt das Gesicht in den Händen.

Das ist jetzt genug! Mit leicht belehrendem Unterton bitte ich sie: „Dann lass‘ es doch. Den Stress musst du dir nicht reinziehen.“ Ich ahne, dass das sinnlos ist: „Nein, ich gehe da schon hin. Das kann ich nicht bringen, beim Konzert nicht mitzusingen.“ Sie geistert eine viertel Stunde durch die Wohnung, putzt sich die Zähne. Dann zieht sie sich den Mantel an, um zum Nachtdienst zu gehen. Die Tür fällt ins Schloss.

Totenstille.

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