Meine Mutter leidet seit ich denken kann an Colitis ulcerosa.
Jetzt ist sie Mitte Siebzig und hat in den letzten fünf Jahren mehr abgebaut
als in den zwanzig Jahren davor. Vor allem körperlich. Aussichten auf Besserung
gibt es nicht. Das ist mir selbstverständlich alles andere als egal.
Meine Eltern leiden ebenso lange an einer ebenso chronischen
Beziehungskrise. In den letzten Jahren ist die Hoffnung auf Besserung einer
dramatischen Resignation gewichen. Vor allem bei meiner Mutter. Das ist mir
auch nicht egal. Es macht mich wütend. Weil meine Eltern zu träge, zu
unentschlossen, zu feige oder – sorry – zu blöd waren, rechtzeitig die
Reißleine zu ziehen. (Gut, vielleicht hatten sie aufgrund der Umstände auch
keine Möglichkeit dazu. Was ich in meinem tiefsten Inneren aber bezweifle.)
Also frage ich meine Mutter wie es ihr geht, wie es meinen
Eltern geht.
In Tonfall einer Nachrichtensprecherin sagt meine Mutter: „Es
ist ja immer etwas.“ Dieser Tonfall ist Fassade. Die gestelzte Pointierung der
jeweils letzten Wortsilbe verrät das. Zumindest mir. „Kannst du das
konkretisieren?“, setze ich nach. Meine Mutter antwortet: „Ach lassen wir das, es
ist doch immer dasselbe. Was machen die Jungs?“ Das ist es! GENAU DAS IST ES! Wer ‚A‘ sagt, muss auch ‚B‘
sagen! Warum – verdammte Scheiße nochmal – macht sie das? Warum rammt sie die
emotionale Banderilla ein, um die Corrida dann nicht zu Ende zu bringen? Was
will sie erreichen? Das macht so null Sinn. Ich habe meine Mutter schon vielfach
gebeten, einfach nichts mehr anzudeuten. Um mir die Spekulationen über den
Zustand ihrer Gesundheit bzw. der Ehe zu ersparen. Ich habe sogar versucht,
nicht mehr zu fragen. Dann aber bräuchte ich gar nicht erst anzurufen. Pah, wie
mir das auf den Sack geht!
Paula knipst das Licht aus. Schon seit Stunden glibbert zähflüssig
ihre Stimmung durch die Wohnung. Sie atmet tief ein. So als wolle sie mir gleich
beichten, dass sie meine Lieblingsschallplatte zertrümmert hat. Sie schiebt
sich an mich heran und legt den Kopf auf meine Schulter. „Was ist?“, frage ich.
Die Corrida ist eröffnet. Mit einem weiteren Stoßseufzer setzt Paula zielsicher
die Banderilla: „Ach, ich fühle mich so …“
…
…
…
Die Widerhaken des Schweigens schmerzen in meinem Fleisch. Wie
der verwundete Stier warte ich mit gesenktem Kopf auf den nächsten Stich in den
Nacken. Aber nichts da. Nur Stille. Tiefes Atmen. Starres Verharren. Ich mache
die Augen auf. Das Mondlicht und die Blätter der Bäume vor dem Haus werfen
irrlichternde Schatten auf das Moskitonetz. Unheimlich. Ich mache die Augen
wieder zu. Nun irrlichtern meine Gedanken:
Noch nicht mal mehr vier Wochen, bis Paula ihren Job
wechselt. Nach 26 Jahren in der Klinik, Abschied nehmen von liebgewonnenen
Kollegen, das Gefühl, Freundinnen in dem Chaos der Station alleine
zurückzulassen, die Ungewissheit, wie es am neuen Arbeitsplatz wird, die
Unsicherheit einer Probezeit oder vielleicht die darüber, dass wir uns zuhause
neu sortieren müssen so ganz ohne Schichtdienst. Die Aufregung, dass nächste
Wochen „ihre Mädels“ zu Besuch kommen, die sie während der Kur vor anderthalb
Jahren kennengelernt hat. Paula spürt, dass ich mich immer wieder mit jemandem treffe.
Sie ahnt etwas. Weil ich in letzter Zeit häufig zu Konzerten gehe, ohne sie zu
fragen, ob sie mitgeht. Sie weiß sogar, dass es Carine ist. Beate aus unserem Ex-Tanzzirkel
hat es ihr zugeraunt; sie kennt Carine. Paulas Mutter geht es im Pflegeheim noch
schlechter. Jakob hat an der neuen Ausbildungsstelle Mist gebaut. Lilith hat
sich von Arnold getrennt. Bei den beiden herrscht schon seit Wochen dicke Luft.
Spekulationen. Gehen mir auf den Sack.
Ich denke an meine Mutter und drehe mich um.