Sonntag, 1. Juni 2014

Stimmungsflaute


„Nennt mich Ismael …“ Auf einem der dritten Programme läuft „Moby Dick“. Den wollten die Kinder schon immer mal sehen. „Gregory Peck, wer sonst, Papa!?“, gibt der Ältere die Besetzung des Käpt’n Ahab bekannt. Trotz des stattlichen Alters des Films und den seinerzeit beschränkten Mitteln sind die Kinder gebannt. Queequeg oder besser seine Tattoos sind unheimlich, die flirrende Hitze während der Flauten ist förmlich zu spüren. „Wal in Sicht. Backbord voraus. Wal – da bläst er!“, die Jagd auf Moby Dick erreicht ihren Höhepunkt. Die Jungs rutschen von einer Backe auf die andere. Spannung pur. Gegen Ende steigt das weiße Monstrum aus den Wellen. Den ertrunkenen Käpt’n Ahab mit ’zig verworrenen Harpunenleinen an seinen geschundenen Leib gezwungen. Die Kinder lachen sich kaputt. Zu unbeholfen kommt die Tricktechnik daher. Es ist eben nicht „The Amazing Spiderman 2“.

In einem Depressionsforum lese ich den Artikel „Der Darm, Spiegel der Seele“. Das Thema interessiert mich. Zum einen kenne ich die Auswirkungen von Nervosität auf die Darmtätigkeit selbst bestens. Zum anderen steht dieses Thema seit langem zwischen Paula und mir. Unausgesprochen. Vor Jahren stellt Paula ihre (und damit auch unser aller) Ernährung um, um für ihre Laufwettbewerbe fitter zu werden. Seither sind Flatulenzen, Stuhlattacken und „ewige Sitzungen“ alltäglich. Alltag wird das für mich allerdings nie. Irgendwann nervt das Gepupe nur noch. Es passiert immer, immer, immer … beim Nähen, beim Putzen, während der Gartenarbeit, beim Kochen. Der – sorry, ich werde zynisch – abendliche Begrüßungswind, den Paula mit ins Schlafzimmer bringt, ist ein universeller Stimmungskiller.

Heute spreche ich Paula auf das Thema an. Es hat lange genug gedauert, bis ich das wage. „Ach ja?“ – die vorwurfsvoll spitz vorgetragene Replik von Paula tut weh in den Ohren. „Du bist ja auch der absolute Spezialist für Ernährungsfragen.“ Der folgende Exkurs in mein Ess-, Nasch- und Trinkverhalten ist gleichermaßen erwartungsgemäß wie umfassend. Hätte ich nur nichts gesagt. Scheiße. Paula zischt weiter: „Wer hat denn hier medizinische Bildung, mein Lieber? Ich weiß ja wohl sehr gut Bescheid über ernährungsphysiologische Dinge. Du kannst ja nicht mal Kohlehydrate von Kilojoule unterscheiden.“ Ob das stimmt, lasse ich unkommentiert. „Ich esse einfach mehr Ballaststoffe als du“, fährt Paula fort. Jow, Ballaststoffe, denke ich, Ballaststoffe sollten in diesem Zusammenhang besser „Belast“stoffe heißen.

Nun kommt der Gesprächsteil, der sehr oft kommt: Paula geht dazu über, Grundsätzliches unserer Beziehung zu thematisieren: „Kann es sein, Paul, dass du das alles mal wieder durch deine Ego-Brille siehst?“ Direkte namentliche Ansprache plus die Kombination von „alles“, „mal wieder“ und „Ego-Brille“ – mir kommt die Galle hoch. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die ich mit mir selbst und Paula gemacht habe, gibt es jetzt drei Möglichkeiten: 

1. Ich antworte: „Was heißt hier ‚Ego-Brille‘, ich denke, die Jungs stören deine Verdauungsprobleme auch.“ Dann würden Paula und ich end- und ergebnislos über diese Spekulation diskutieren. Und darüber ob es tatsächlich „Probleme“ gibt.

2. Ich frage Paula, ob sie nicht mal bei der Sache bleiben könne. Ihre Antwort, „das gehört für mich zur Sache“ wäre eine bewährte Killerphrase.

3. Ich sage nichts mehr. Paula würde sauer werden. Aber das ist sie sowieso schon. Und ich werde in Zukunft meinen Mund halten, das Thema abhaken, vielleicht sogar verdrängen und mich mit der Situation abfinden. Genauso wie ich mit damit abgefunden habe, dass wir kaum noch zusammen ausgehen, seit der Tanzzirkel auseinandergefallen ist. Dass wir uns beim Essen oder bei Gesprächen kaum noch ansehen oder uns über Erziehungsfragen selten einig sind …

Ich entscheide mich für 3.

Wir sitzen alle Vier beim Abendessen. Knatternd entbläht sich Paula. Sie quetscht ein „‘tschuldigung“ heraus. Die Jungs schauen sich an und lachen albern los.

„Der Wal – da bläst er“, johlen sie im Chor.


Sonntag, 6. April 2014

Einkaufstrainer

Mathias ist Linkshänder. Und Gourmet. Für einen guten Wein fährt er schon mal 80 Kilometer. Für  ein gutes Stück Fleisch auch: Der 800-Gramm-Kawenzmann liegt sauber pariert auf der Arbeitsfläche. Mathias macht sich daran, portionsgerechte Stücke abzuschneiden. „Scheiße!", flucht er. Die erste Scheibe edlen französischen Bœufs flappt zugegebenermaßen ziemlich verkorkst auf den kalten Marmor. „Wieder mein Linkshändermesser zu Hause liegen lassen“, erklärt Mathias seinen Fluch. In einem kurzen Exkurs erläutert er mir, dass Messer in einem speziellen Winkel geschliffen werden, so dass der Schnitt gelingt. Für Rechtshänder. Normalerweise. Und er zeigt mir, wie man ein Messer für den optimalen Schnitt ansetzt. Wieder was gelernt

Paula, die Kinder und ich sind Zelten. Die Sonne steht eben über dem Kamm des Massif Central, der leichte Dunst über dem schweren Tau verbreitet romantische Stimmung. Der Kleine tapert  zum Empfangskiosk, holt die Tüte mit Baguette und Croissants. Der Espresso zischelt durchs Steigrohr der Caffettiera. Wir gucken alle ein wenig verknautscht aus unseren Schlafsackgesichtern: „Endlich Frühstück!“ frohlockt der ältere der Brüder.

Paula nimmt sich ein Baguette, platziert es auf dem campingtischtypisch wackeligen Campingtisch, schneidet eine Scheibe – nun ja, eher ein keilförmiges Stück Brot – ab. „Du musst das Messer so winkeln, dass die Schneide leicht von oben links nach unten rechts verläuft“, versuche ich das Mathias’sche Wissen weiterzugeben. Vielleicht der etwas autoritären Formulierung oder dem nächtlichen Liegekomfort geschuldet, drückt Paula ab: „Pass mal auf mein Lieber, ich bin 46 Jahre alt und brauche sicher keinen Coach, der mir erzählt, wie ich Brot zu schneiden habe, ja!?“ Es ist definitiv dem Mangel an Kaffee geschuldet, dass ich auf diese Bemerkung nicht eingehe. Ich nehme mir ein Croissant.

Heute hat Paula Frühschicht. Wie immer übernehme ich den Wochenendeinkauf. Ich brauche einige Dinge, die man nur in der Stadt bekommt. Paula hat das Auto. Also fahre ich mit dem Zug zur Klinik, hole das Auto, fahre zum Supermarkt, stelle das Auto mit den Einkäufen wieder auf den Parkplatz. (Die Sachen, die gekühlt werden müssen, trage ich im Rucksack nach Hause.) Leider bin ich etwas überhastet aufgebrochen, bin nicht recht im Bilde, ob etwas im Haushalt fehlt. Also packe ich vorsichtshalber Klopapier, Küchenrolle und zwei Sechserpacks Apfelschorle ein. 

Paula kommt nach Hause. Mit den Einkäufen. Sie klingelt, sie ist mit Apfelschorle bepackt. Ich drücke den Türöffner und mache die Wohnungstür auf, will Paula die schweren Flaschen abnehmen. Sie drängt mich zur Seite. Möglicherweise hat sie heute zu wenig Koffein abbekommen: Ihr Schlechte-Laune-Maschinengewehr ballert los: „Du musst vielleicht mal checken, ob noch Klopapier, Küchenrollen oder Getränke da sind, bevor du einkaufen gehst. Das habe ich alles schon am Mittwoch besorgt!“ Ich habe, erstens, ausreichend Kaffee getrunken und bin, zweitens, 46 Jahre alt und brauche sicher keinen Coach, der mir erzählt, wie ich einzukaufen habe. Meine Retourkutsche ist nicht minder zaghaft: „So, nun pass du mal auf, meine Liebe. Und es ist mir scheißegal, dass du gerade nach dem Dienst heim gekommen bist. Mag sein, dass ich meinen Einkaufszettel nicht so organisiert zusammenstelle, wie du. Mag auch sein, dass ich nicht so den Überblick habe. Oder vielleicht interessiert es mich – wie du ja so gerne behauptest – nicht, was in diesem, übrigens unserem gemeinsamen, Haushalt abgeht! Egal wie oder warum, jede noch so kleine Bemerkung zum heutigen Einkauf ist vollkommen unnötig. Weder Klo-, noch Küchenpapier, noch die Apfelschorle werden hier schlecht! Wenn du rumkacken willst, dann bitte woanders. Ich hab’s echt nicht verdient. Also halt dich zurück, halt dich einfach zurück, ja!?“

Der heftigste Streit seit Monaten entbrennt. Ich habe die Nase gestrichen voll. Ich versuche Paula lautstark klarzumachen, dass auch eine Depressionspatientin fair bleiben muss und dass das meiner Meinung nach auch ganz einfach möglich ist: Einfach nur mal den Mund halten. Zum Beispiel. Paula sieht das anders. Ich hätte ihren Zustand völlig aus den Augen verloren. Ich müsse auf sie Rücksicht nehmen und nicht umgekehrt. Wir sind voll in Fahrt, wir werden immer lauter, die Argumente – falls es überhaupt noch welche sind – hochgradig emotional, verletzend. Es rauscht im Karton. Die Kinder streunen auf der Treppe herum, der Große sagt halblaut: „Das muss doch jetzt nicht sein.“ 

Ich reiße die Schlafzimmertür auf, hinter der Paula und ich mittlerweile streiten. „Doch, manche Dinge müssen manchmal sein!“

Das Wochenende ist eh wiedermal im Eimer.


Sonntag, 30. März 2014

Sommerzeit

"Er sagt, er liebe mich nicht mehr“, sagt Carine. Sie sitzt neben mir auf einem Barhocker im Ozean, eine der sumpfigsten Kneipen der Stadt. Mit ihrer Haute-Couture-Bluse und den Krokolederstiefeln passt sie nicht recht ins Ambiente. Ich mit meinem karierten blauen Hemd auch nicht.

Das ist uns völlig einerlei. Carine hatte gerade ein bisschen Stress mit dem Türsteher des Ladens um die Ecke. Sie kam nicht rein. Ich war schon drin. Nun sitzen wir hier. Es ist die Kneipe, die ganz buchstäblich am nächsten liegt. Wir haben uns drei Monate nicht gesehen. Gestern gegen Mitternacht schicke ich ihr eine SMS: Ob sie Zeit, Lust und Gelegenheit hätte, spontan mit mir auszugehen. Sie hat. Das freut mich; ich mag sie.

Sie spricht von Beziehung. Wie immer. Konkret von der zwischen ihrem Mann und ihr. Er liebt sie nicht mehr. Carine sieht mich fragend an. Bittend fast. Sie erwartet ein Antwort, einen Kommentar, eine Stellungnahme. Ich habe einen Rioja und zwei Cuba Libre hinter mir. Ich bin etwas berauscht. Oder hormonell aufgekratzt. Warum erzählt sie mir das immer? Hat sie denn keine beste Freundin? Bin ich etwa ihre beste Freundin? Oder: Kann ihre beste Freundin nichts dazu sagen, weil sie eine Frau ist? Will Carine die Meinung eines Mannes hören? Will Sie meine Meinung hören? Will sie, dass ich etwas sage wie „So ein Vollpfosten, wie kann man(n) eine so wundervolle Frau wie dich nicht lieben“? Ich entscheide mich für eine Variante, der – so kommt es mir in diesem Moment vor – etwas Trost innewohnt. Gleichzeitig ist es eine exakte Beschreibung meiner eigenen Gefühlslage.

„Was heißt schon ‚lieben‛?“, stelle ich erstmal in den Raum. Das Frage- bzw. Erwartungszeichen in Carines Gesicht wird größer. Ich lege nach: „Weißt du, ich kann die Frage, ob ich Paula (noch) liebe, nicht beantworten. Was erwartet man denn von ‚lieben‛, was verbindet man damit?“ Wenn es darum geht, die Schmetterlinge im Bauch zu spüren, die beim ersten Kuss in einer dunklen Ecke des Kreisgymnasiums aufgeflattert sind oder darum, nochmal den Adrenalinkick des ersten Pettings zu spüren, dann lautet die Antwort: Nein, ich liebe sie nicht (mehr).“ Carine nickt. Und versteht. Das sehe ich ihr an. „Andererseits, wenn ich mir ansehe, was wir gemeinsam erreicht, was wir miteinander durchgestanden, welche gemeinsame Verantwortung wir in z. B. für die Kinder übernommen haben, dann lautet die Antwort: Ja, ich liebe sie noch. Ganz zu schweigen von der Unruhe, die mich beschleicht, wenn Paulas Bett neben mir während einer ihrer Nachtschichten leer bleibt.“

Ich sehe Carine direkt in die Augen. Traurige Augen. „Ich wüsste gerne“, sagt sie, „warum er noch bei uns ist. Vielleicht wegen der Kinder … ich weiß es nicht.“ Sei zieht die Augenbrauen nach oben, sieht mich an. Verzweifelt. Große Rehaugen. Wie in Trance – aufflatternde Schmetterlinge, Adrenalinkick oder „Oh La La La“ von The Fugees, das in Diskothekenlautstärke aus den Boxen stürzt? – hebt sich mein Arm, mit der offenen Handfläche streichle ich Carine über die Wange, ziehe meine Augenbrauen hoch, sehe sie an, ihre Haut ist so fein, irgendwie elegant, für mich so anders … 

Das Ozean macht dicht. Wir nehmen im Anatoly’s noch einen Mai Tai, erzählen uns Geschichten aus unserer Halbstarkenphase, lassen uns Zeit, unbemerkt wird die Uhr umgestellt: Sommerzeit, der letzte Bus ist weg, Carine geht zu Fuß nach Hause, ich nehme ein Taxi.

Dreieinhalb Stunden Schlaf, Paula kommt von der Nachtschicht nach Hause, kommt ins Bett gekrochen, kuschelt sich rücklings an mich, ich lege den Arm um sie, schiebe meine Hand unter ihr Shirt, spüre ihren nackten Bauch, ziehe sie fest nah an mich heran, rieche sie … liebe ich sie (noch)?

Ich schlafe nochmal ein.


Samstag, 15. Februar 2014

Entblößt

Meine Oma (besser: 'unsere Oma', schließlich habe ich eine Schwester) ist zeitlebens dabei. Ganz konkret dabei: vor Ort, im Ort, hier, nebenan, in ihren letzten Jahren sogar einfach oben im Studio. Als ich geboren werde, leben meine Eltern mit meinen Großeltern unter einem Dach; mein Vater bastelt 120 Kilometer entfernt an seinem Dipl. Ing. Wir ziehen – mein Vater hat fertig gebastelt und will nun Dr. Ing. werden – 120 Kilometer weiter in den Süden. Dort nimmt sich Oma eine kleine Wohnung, einen Steinwurf entfernt. Ich komme in die Schule, schwärme in der zweiten Klasse erstmals für ein Mädchen, bekomme die Mandeln herausoperiert, verbrenne mir beide Hände an einem Knallkörper und … ich darf, wenn ich am Wochenende bei Oma übernachte, „Bonanza“, „Tarzan“ oder „Am laufenden Band“ glotzen. Die echten Höhepunkte meiner Kindheit aber sind die Reisen mit Oma.

Nichts Spektakuläres, wir sind nicht wohlhabend, Oma sehr bescheiden. Meist fahren wir mit dem Bus, ich als Bub zwischen 'zig Rentnern. Oma und ich haben ein Doppelzimmer. Eine Woche lang schlafe ich Seite an Seite mit ihr. Das ist toll. Wenn um zehn Uhr abends in einem Rentnerkurort im Bayrischen Wald die Bürgersteige hochgeklappt werden, ist ein Bub in den Schulferien längst nicht müde. Dann beginnt Oma zu erzählen. Aus ihrem Leben, oft vom Krieg, von ihrem Mann, dem Rangierführer, der im zweiten Krieg ein Bein verloren hat und stirbt, als ich sechs Monate alt bin. Sie erzählt vom Hockeyclub, in dem sie als Mädchen gespielt hat und von ihrer Schwester, meiner Großtante, mit der sie sich immer streitet. (Auch noch, als beide weit über achtzig Jahre alt sind und Oma im Rollstuhl sitzt.) Meine liebste Geschichte von allen ist die:

„Nach dem Krieg hab‘ ich Hauswirtschafterin gelernt. Die erste Arbeit die ich bekam, war auf einem großen Gut. Als Küchenmamsell habe ich für den Herrn, seine Knechte und das übrige Gesinde gekocht. Mit der Zeit hat sich gezeigt, dass der Sohn des Herrn und ein Knecht mich gern hatten. Das war komisch, weil sich die beiden ständig in die Haare kriegten. Als ich eines Tages zufälligerweise mit den beiden Kerlen alleine in der Küche war, habe ich einen Apfel genommen, habe den vor den Augen der beiden abgeschleckt, auf den Tisch gelegt und gesagt: 'Wer in diesen Apfel beißt, der soll mich haben'.“ Und weißt du was, Bub? Der Knecht hat reingebissen.“ Der Knecht wird mein Opa.

In der Nacht in Mittenwald, als mir Oma diese Geschichte zum ersten Mal erzählt, will ich – das sei meiner kindlichen Neugier geschuldet – es genau wissen: Wie das alles so weiter ging, wie Mama auf die Welt kam und … wie es überhaupt kam, dass Mama auf die Welt kam. Auch das erzählt Oma in ihrer unvergleichlichen Art. Ehrlich gesagt – auch das sei meiner Jugend geschuldet – verstehe ich das alles nicht so recht. Ein Satz jedoch bleibt mir bis heute in Erinnerung: „Ach, weißt du, Bub, damals war das alles anders als heute. Der Opa und ich, wir haben uns nie nackt gesehen.“

Ich sehe meine Frau, Paula, nackt. Gestern Abend. Das erste Mal seit fünf Wochen: Ich komme die Treppe herauf, als sich Paula – die Tür steht offen – im Bad gerade umdreht, um ihren Schlafanzug vom Haken zu nehmen. In der Sekunde, die bleibt, ehe Paula die Tür hastig schließt, sehe ich Paula an. Ich sehe Paulas Körper an. Ich sehe ihn gerne an. Er ist schön. Ich vermisse ihn.

Der erste Bus fährt vorbei. Das ist um Viertel nach fünf. Meine Blase drückt, ich gehe ins Bad. Zurück, kuschle ich mich in die warmen Kissen und schiebe meine Hand unter Paulas Decke, lege sie einfach auf Paulas Körper. So wie ich es jeden verdammten Tag der letzten fünf Wochen mache. Paula reagiert nicht. So wie an jedem einzelnen Tag der letzten fünf Wochen. Ich bleibe dran. Ganz buchstäblich. Nur an Paulas Rücken. Mit meiner Hand. Ich tue nichts. Außer flach atmen. Mein Nacken verspannt sich. Wenig später fühlt es sich an, als würde meine Stirnhaut von Gummispannern nach hinten gezerrt. Ich muss die Position ändern, lasse Paula los. Da steht sie auf, geht ins Bad. Wenn ich – und das kann ich nahezu perfekt – Tageslicht und Verkehrsintensität richtig interpretiere, ist es jetzt halb sieben. Paula kommt wieder ins Bett. Sie legt sich hin. Ich atme flach. Lausche. Paula ist wach. Keine Bewegung. Keine Hand. Keine Nähe. Keine Paula. Kein Wir. Nichts.

Ich liege mit offenen Augen da, starre die Zweige des Nussbaums an, die sich vor dem Dachfenster in Wind und Halbdunkel bewegen. Irgendwie kommen mir Oma und ihre Geschichten in den Sinn. Ich spüre, dass Paula immer noch wach ist. Ich zögere einen Moment, stehe dann doch auf, packe mich in die muffigen Klamotten von gestern, die noch im Bad liegen. 

Es ist Samstag, die Digitaluhr am Herd zeigt rote „06:36“. Ich schreibe diesen Post.


Sonntag, 9. Februar 2014

Arbeit

„Es ist die Arbeit.“ Paula ruft mich aus der Therapieklinik an. Bereits drei von fünf Wochen ist sie dort. Langsam fange ich an, mir Gedanken zu machen. Darüber, wie es sein wird, wenn sie wieder zuhause ist. Wenn wir alle wieder „echten“ Alltag haben.

Paula ruft fast jeden Tag an. Oder die Jungs rufen sie an. Dazu fordere ich sie jeden Tag auf. Ich selbst rufe Paula nicht an. Ab und zu schicke ich ihr eine SMS. Mit den bekanntschaftlichen Gossip-News oder den Zensuren der sechsten bzw. achten Realschulklassen. Ich halte mich zurück. Weil ich – wohl typisch Mann – erstens nicht eben der begnadete Telefongesprächspartner bin. Zweitens, weil ich will, dass Paula wirklich Abstand gewinnt, einen Überblick bekommt. Über ihre Situation. Über uns. Als Paar. Uns als Familie. Und über die Lage in der Klinik. Ich sage nicht „Arbeit“ in der Klinik. Denn die Arbeit als solche ist es nicht. Paula geht in ihrem Beruf auf. Sie kann darin leben. Die Lage in der Klinik – das sind die Überstunden, die absurden Erwartungen an die Teilzeitkräfte, die Springerdienste leisten sollen. Die Lage in der Klinik, das ist auch der Druck, dem sich Paula aussetzt, wenn sie einerseits für eine Kollegin einspringen will, andererseits aber spürt, dass „ihre drei Männer“ unsichtbar die Augen rollend denken: „Nicht schon wieder!“ Und manchmal spürt Paula, dass diese Gefälligkeit ihr selbst nicht gut tut.

Das haben wir ’zig Millionen Mal durchgekaut. Und jetzt sagt Paula am anderen Ende der Leitung: „Es ist die Arbeit.“ Ich frage, was sie damit meint. In ihren eigenen Worten schildert mir Paula den Unterschied zwischen „Arbeit“ und „Lage“ in der Klinik. Das habe sie „in den paar Einzelgesprächsstunden“ als Ursache allen Übels ausgemacht. Ich nicke Paula zu. Natürlich sieht Paula das nicht. Ich sage ihr, dass mir das schon seit ewigen Zeiten klar ist, ohne dabei belehrend zu wirken. Das klappt einigermaßen. Vorsichtig klopfe ich an Paulas Gedanken- und Gefühlskästlein an, ob sie schon Schlüsse für sich daraus gezogen habe. Paulas Antwort kracht in meinen Kopf, wie der Baseball in Papas Weichteile in einem dieser beknackten „Upps!-Die-Pannenshow“-Videos: „Langfristig werde ich nicht mehr an der Klinik bleiben. Ich habe mich entschlossen, die Zusatzausbildung "Familienhilfe" zu machen. Ich habe mich schon erkundigt, ich kann im März nächsten Jahres anfangen.“ (Soviel zum Thema Abstand gewinnen.) Ich bin platt. Ich schaffe es nicht, etwas dazu zu sagen. Zu lange schon geht Paula mit dem Gedanken an diese Qualifikation schwanger. Zu oft hat sie den Plan verworfen: zu alt, zu teuer, zu aufwändig mit Familie, zu dies …, zu das …“. Nach ein paar ewigen Sekunden schwenke ich um: „Und sonst? Haben denn die ganzen Sessions noch was gebracht?“ „Ich glaube, ich muss lernen, öfter und klarer ‚Nein‘ zu sagen“, antwortet Paula. „Mein Gott, jetzt hat sie’s“, sagte einst Professor Higgins. Ich sagen nur: „Ja.“

Paula ist zurück. Morgen ist ihr erster Arbeitstag nach der Therapie. Wir bringen zusammen die Küche in Ordnung. Wir wollen die „Tagesschau“ mitbekommen. „Na, da bin ich ja mal gespannt. Die Kollegen freuen sich sicher, dass du wiederkommst“, versuche ich Paula aufzumuntern. Ohne jeglichen sarkastischen Hintergedanken. Paula ist skeptisch: „Hoffentlich wird das nicht so heftig.“

Ich komme, ab sofort wieder: wie immer, von der Arbeit nach Hause, während Paula Abendessen macht. Ich komme in die Küche. Paulas Schultern sind schier auf die Hüfte heruntergefallen: Es war heftig. Ich denke. „Scheiße“, gehe auf Paula zu, lege nur meine Hand an ihr Schulterblatt. Für ein „oh je, oh je“ habe ich gerade noch Zeit, bevor Paula lostobt und losheult: „Die haben doch wohl den Arsch auf. Nur weil ich ein paar Wochen weg war und keine Wünsche für den Dienstplan eintragen konnte. Jetzt habe ich von den sieben Wochenenden bis Weihnachten an fünfen Dienst.“ Das Abendessen gleicht einer Schweigeandacht.

Am nächsten Morgen mache ich Paula einen Vorschlag, der mir während der Nacht in den Sinn kam: „Zähl‘ doch mal, an wie vielen Wochenenden deine lieben Kolleginnen und Kollegen arbeiten sollen.“ (Dieses "lieben" sage ich diesmal durchaus mit sarkastischen Hintergedanken.) Dieser Vergleich ist ernüchternd. Bereits zwei Tage später konfrontiert Paula ihre Einsatzleitung mit der Aufstellung. Ihre Chefin stellt den Dienstplan sofort um; an einem der Wochenenden übernimmt sie gar selbst den Dienst.

Paula hat es geschafft: Sie hat „nein“ gesagt.


Mittwoch, 22. Januar 2014

Jahrestag





Heute vor einem Jahr habe ich diesen Blog begonnen.

Am Anfang euphorisch – viele Dinge, Themen, Texte gar hatte ich lange zuvor im Kopf. Später haben die Prioritäten des Alltags die Schreibfrequenz reduziert. Schließlich konnte Paula die stationäre Therapie machen. Seither habe ich eine Schreibblockade. Warum? Hat sich alles zum Guten gewendet, so dass es nichts zu schreiben gibt? Sind es immer (noch) die gleichen Themen? Oder ist alles schlimmer geworden und meine Gedanken ertrinken in der Themenflut? Auf keine dieser Fragen weiß ich eine Antwort. An einem Tag, denke ich, es sei so, am nächsten, es sei anders. 

Wie auch immer, ich bin froh, dass ich den Blog angefangen habe. (Und mache – ich habe ihn nicht aufgegeben!) Das Schreiben hilft mir selbstverständlich, meine eigenen Gedanken zu fokussieren, Vieles sehe ich dann klarer, kann oftmals nützliche Schlüsse ziehen. Und … der Blog hilft auch vielen, vielen Leserinnen und Lesern. Darauf bin ich auch ein bisschen stolz, denn ich hätte niemals erwartet, dass ich über 100 Zuschriften bekommen würde, deren Verfasser sich dafür bedanken, dass sie mithilfe meines Blogs ihre eigene Situation besser begreifen bzw. anders sehen. Ebenso wenig habe ich erwartet, dass der Blog in einem Jahr 17.710 Seitenklicks erreichen würde. Das sind mehr als 48 Klicks pro Tag!

Allen, die den Blog gelesen haben oder regelmäßig lesen, an dieser Stelle ein aufrichtiges und herzliches Dankeschön. Ich bin motiviert, weiterzumachen. Allein: Derzeit fehlt es wirklich an Zeit. Und die braucht das Schreiben.

In diesem Sinne: auf bald!
Liebe Grüße PK