Montag, 11. März 2013

Reizschwellen

„Ich möchte nicht das Gefühl haben, ich käme in eine Klinik, wenn ich nach Hause komme!“

Der Spruch trifft. Und zwar direkt in Paulas zentrales Nervensystem. Ihre Reaktion ist eindeutig. Kreischend wie eine 13-Jährige auf der Gefällstrecke einer Achterbahn vermittelt sie mir, was sie von Kritik an ihrem Ordnungssinn hält. Ich blaffe dagegen. Ebenso lautstark, wenngleich in tieferer Tonlage. Der Inhalt meines „Diskussions“beitrags lautet in Kürze etwa so:

Grundregeln der Toleranz im Allgemeinen und die der praktizierten Toleranz in einem soeben gegründeten gemeinsamen Haushalt im Speziellen:

Paragraf 1:
Paul legt seine Sachen dahin, wohin er erstens will und zweitens, wo er sie wiederfindet. Paula räumt Pauls Sachen, die er irgendwo hingelegt hat, nicht weg. Paula legt ihre Sachen dahin, wohin sie will. Diese Sachen kann sie auch wegräumen, denn Paul wird es nicht tun.

Paragraf 2a:
Paul saugt, putzt und staubt ab, sobald seine Hygienereizschwelle überschritten wird. Alle diese Tätigkeiten verrichtet Paul nach bestem Wissen, Gewissen und eigenem Sauberkeitsempfinden.

Paragraf 2b:
Paula saugt, putzt und staubt ab, sobald ihre Hygienereizschwelle überschritten wird. Alle diese Tätigkeiten verrichtet Paula nach bestem Wissen, Gewissen und eigenem Sauberkeitsempfinden.

Paragraf 2c:
Paul respektiert Paulas Sauberkeitsempfinden. Paula respektiert Pauls Sauberkeitsempfinden. Beides nicht zuletzt im Sinne der Effektivität.

Paragraf 3:
Die Regelungen des Paragrafen 2 gelten in gleicher Form für das Drapieren von Sofakissen bzw. das ästhetische Empfinden darüber.

Soweit (m)ein seinerzeit blauäugiger theoretischer Ansatz. In den weiteren 18 Jahre unseres bis heute gemeinsam geführten Haushalts treten diese "Regeln" nie in Kraft. Ich gewöhne mir an, meine Sachen dorthin zu legen, wo ich erstens will, zweitens ich sie wiederfinde und drittens Paula sie nicht stören. Das Saugen, Putzen und Abstauben teilen wir auf. An Wochenenden, an denen Paula Dienst hat, mache ich das. Trotzdem übernimmt Paula den Löwenanteil. Einfach weil sie tagsüber öfter zuhause ist. Die Betonung liegt hier auf tagsüber. Im Sinne von: Solange kein anderer zuhause ist, der dabei stört. Oder parallel die Kinder betüddelt werden wollen. Die Draperie der Sofakissen überlasse ich Paula. Seit Jahren.

Wir stehen auf. 6:20 Uhr. Wie jeden Werktagmorgen. Ich quäle mich die Treppe hinunter, drehe das Radio an, schlurpe in die Küche, mache Frühstück. Als ich das Tablett zum Essplatz trage, kommt Paula die Treppe herunter und ... zupft erst einmal den Läufer auf dem Sideboard zurecht. Als erste Handlung des Tages. Noch vor der ersten Tasse Kaffee. Sie geht zum Sofa und drapiert die Kissen. Ich lasse den Zucker in meine Tasse rieseln. Von sehr weit oben.

Ich komme nach Hause. Neben der Tür zur Toilette steht der Putzeimer. Ich verstehe die Welt nicht mehr: Am Wochenende hatte Paula Dienst, ich habe geputzt. Das war gestern. Ich schlucke, aber verhalte mich unauffällig. Nach dem Abendessen räume ich mit dem Jüngsten den Tisch ab, das Geschirr in die Spülmaschine. Ich wische den Esstisch und packe mich zum Rest der Familie vor die Tagesschau. Der nachfolgende Film ist spannend. In einer Werbepause steht Paula auf. In der Küche holt sie den Lappen. Um den Esstisch abzuwischen. In meinem Gesicht wachsen Pickel. Glaube ich. Ich habe keine große Lust mehr auf den Film. Ich gehe nach oben ins Schlafzimmer. Ohne Plan. Paula hat wieder die Klamotten auf meinem „Kann-ich-Morgen-nochmal-anziehen-Sessel“ geordnet. Wie jeden Tag! Heute hängen sogar die beiden Sweatjacken auf einem Kleiderbügel am Schrank. Ich lasse mich auf's Bett fallen. Auf dem Nachttisch liegt ein Dutzend Bücher. Gut die Hälfte davon über Depression.

In einem habe ich gelesen, dass depressive Menschen häufig Zwangshandlungen an den Tag legen.

5 Kommentare:

  1. jede handlung wirkt wie ein stiller vorwurf...

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  2. ..paula und ich müssen verwandt sein! die beschreibung hätte auch für mich verfasst worden sein können. früher war ich ziemlich unordentlich und mit der depression kam auch dieser ordnungs-putz-wahn. vielleicht ist es das gefühl, wenigstens ein kleines bisschen selbst in der hand und im griff zu haben, die dinge zu gestalten, wie man will. einfluss, ja "macht" ausüben zu können, nicht immer nur hilflos der krankheit ausgeliefert zu sein, wie eine marionette dem puppenspieler. da rückt man schon gern mal gegenstände drei mal gerade, bis sie wirklich perfekt angeordnet sind..außerdem wird die wahrnehmung emfpindlicher. ich glaube, das nachgeputze und rumgezuppele kann die mitmenschen ganz schön nerven. ich führe auch einen stetigen kampf mit meiner familie bzw. mit meinem mitbewohnern. aber sieh es einfach als ein stück einflussbereich, das wir uns sichern, um nicht gänzlich in den strudel der krankheit gesogen zu werden und versuche, es nicht als nichtachtung deiner arbeit zu empfinden!

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  3. Gerade schwerst depressiv sitzte ich nur noch stumpf in einer Ecke und grüble.. Niemals würde ich da putzen, so ganz ohne Kraft und Willen.. Innerlich verrottet kann doch ruhig das Chaos um mich toben, als Spiegel meiner Seele ist Schmutz fast erstrebenswert..

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  4. Hallöchen Paul. Werde mich jetzt mal mit Deinem Blog vom Anfangan beschäftigen und bestimmt werde ich manches mal Kommis geben. Freu mich darauf. Alles Liebe Jessi

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  5. Hallo Paul. Deinen Blog finde ich sehr interessant, ich werde mich wohl langsam durcharbeiten. Jedenfalls mag ich hier bleiben. Ich wünsche dir Sonne. Draußen und im Herzen.

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