Mittwoch, 23. Januar 2013

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold

Die letzten zehn Stunden haben die allerbesten Chancen, auf der Beschissenheitsskala ganz weit nach oben zu kommen.

Paula ist gut drauf. Die Stimmung ist gut. Auch zwischen uns. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass es heute endlich (der Unterton ist beabsichtigt) mal wieder klappen könnte. Mit „es“ meine ich – böse Zungen mögen sagen: „Natürlich!“ (mit langgezogenem „ü“) – Sex. Den hatten wir seit 20 Tagen nicht mehr. Und das letzte Mal war „Erfüllungsarbeit“. Schrecklich.

Trotzdem steckt mir die aktuelle Situation in den Knochen. Also gönne ich mir ein, zwei Gläschen Brandy. Nichts, was mich umwerfen, aber ein bisschen in Stimmung bringen und die Zweifel zerstreuen soll. So ist es auch. Wir kuscheln, wie streicheln uns …

Ab einem gewissen Punkt setzt bei mir (wie stets) das Kopfkino ein. Keine abseitigen Phantasien, sondern schlicht und ergreifend Bilder von einem Liebesakt, wie ich ihn nach 18 Jahren Beziehung für normal halte. Diese Bilder versuche ich, in die Tat umzusetzen. Paula hat meinen mittlerweile „aufgerichteten kleinen Freund“ angenehm zupackend in der Hand, aber ihre Blockade ist spürbar: Sie lässt mich ganz buchstäblich nicht ran.

Zum ersten Mal tue ich dann etwas, was ich mir schon lange überlegt hatte: Ich frage Paula, ob in ihrem Kopfkino (auch) ein Film liefe und wenn ja, welcher. (Diese Frage mag vielen völlig normal vorkommen in einer ebensolchen Beziehung. Die haben wir aber nicht. Kopfkino bzw. Sex haben wir in den letzten fünf bis acht Jahre nur thematisiert, wenn es Anlass gab, darüber zu streiten.)

Kurzum: In ihrem Kopfkino gibt es keine Vorstellungen. Das Kino ist geschlossen. Der Projektor ist kaputt, vom Rost der Depression zerfressen. Absolute Dunkelheit im gesamten Saal; keinerlei Bewegung auf der Leinwand.

Hey, natürlich erleichterte es mich für den Moment, wenn Paula mich mit der Hand befriedigt. Aber darum geht es nicht (nur). Ich will – siehe oben – keine Arbeit (oder nennen wir es Anstrengung) von ihr, die nur einen Teil meiner Erwartungen und/oder Wünsche erfüllt. Ich will Leidenschaft, Hingabe. Ich will geben. Und nehmen – klar. Sex eben! Normalen Sex.

Ich entziehe mich ihrem Griff. Wir fangen an zu reden. Darüber, worum es mir geht. Und darüber, dass/was Paula nicht kann. Das geht ein paar Minuten gut. Bis das Gespräch eskaliert. Das leider Übliche eben. Jetzt fällt es mir schwer, die Essenz daraus zu ziehen. Vielleicht gibt es ja auch mehrere Essenzen. Eine davon ist die:
Sie kann sich nicht öffnen. Nicht vor sich selbst. Nicht vor und mit mir. Sexualität existiert bei ihr nicht. Das sind ihre Worte, nicht meine Meinung. Das bedeutet: Sex findet nicht statt. Höchstens Erfüllungsarbeit. „Sicher“, sagt Paula, „ich weiß, das ist viel von dir verlangt, Paul. Aber im Moment ist es so und ich kann nichts ändern.“

„Stopp! Stopp! Stopp! Was heißt hier 'im Moment'? Dieser Moment geht auf den ersten Blick schon 20 Tage. (Ich will nicht darüber diskutieren, ob das nun ein statistisch langer Zeitraum ist. Wir reden hier von meinem ganz subjektiven Empfinden.) Bei intensiverer Betrachtung ist Sex schon seit langem ein Thema. Wenn wir ganz genau hinsehen, schon seit mindestens fünf Jahren, seit deine Mutter ins Heim kam. Aber – mal Hand aufs Herz – schon früher haben wir oft darüber gestritten. Wie lange soll ich das noch aushalten? Und – konsequent weitergedacht – heißt das doch: Ich (Paul) zahle 100 % ein (Abwarten, Geduld und Befriedigungsdefizit) und bekomme nichts zurück. Ich denke seit einiger Zeit über eine „offene Beziehung“ nach.“ Das habe ich ihr gesagt.

Ich hätte besser nichts gesagt. (Selbst wenn Paula in den restlichen Minuten dieser … na ja … Konversation sagt, dass ich so eine Idee ansprechen müsse, wenn ich darüber nachdenke.) Und mit „nichts“ meine ich nichts – kein Wort zum Kopfkino, kein Wort zu meinen Wünschen, null, nada, niente. Ich hätte den Gedanken an Sex verdrängen sollen. Das Perverse an der Sache: Hätte ich tatsächlich geschwiegen, hätte ich Paula nicht gestreichelt, hätte sie mir in Kürze mal wieder zum Vorwurf gemacht, dass ich nicht für sie da wäre. (Welche Chance habe ich eigentlich, irgendetwas richtig zu machen?)

Heute Morgen ist Paula nur ein Geist ihrer selbst. Noch während des Frühstücks legt sie sich wieder ins Bett. Ich frage sie, ob es etwas zu besprechen gäbe. Oder ob sie etwas besprechen wolle. „Das macht“, sagt Paula, „keinen Sinn.“ Ich dusche heiß, ziehe mich an und gehe zur Arbeit. Nachher werde ich ihre Hausärztin anrufen, um zu fragen, wo wir kurzfristig eine Paartherapie beginnen können.

4 Kommentare:

  1. Nerv ich schon mit meinen Kommentaren? dann lass ich es! Aber ich kann dir versichern das es besser werden kann! Man muss nur was tun und alles andere ergibt sich dann wie von selbst .... Ganz wirklich. Depressionen sind leicht zu behandeln, man muss sich nur einlassen!

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    1. Eigenlich bin ich hier nur zufällig drübergestolpert. Aber die Aussage "Depressionen sind leicht zu behandeln" ist schon recht haarsträubend. Depressionen sind behandelbar, ja. Leicht? Nein. Es kommt natürlich auch auf die Ausprägung und das genaue Störungsbild an. Ich selbst lebe seit gut 20 Jahren mit Depressionen, bin seit ca. 6 Jahren in Behandlung, auf einem guten Weg aber eine vollständige "Heilung" wird es nie geben. Und ich habe grad eine Beziehung hinter mir mit einer Frau die noch wesentlich kranker ist als ich, anorektisch, bipolar, depressiv. Sie wollte zwar ständig nur Sex, aber das lag eher daran dass sie ansonsten keinerlei Perspektive für sich sieht und an nichts Anderem Freude finden kann. Wie ein Junkie ständig mit dem Verlangen nach Betäubung. Ich habe sie in einer psychosomatischen Klinik kennengelernt, sie war recht mutig danach, doch wenige Wochen später alles wieder beim Alten. Sehr viele übrigens in der Klinik sind seit Jahrzehnten in Behandlung, und waren teils schon mehrfach stationär. Und das sind längst nicht die schwersten Fälle, da diese Klinik (keine Psychiatrie) ausschließlich "stabile" Depressive aufnimmt, sprich solche die objektiv betrachtet ein eigenständiges Leben führen können und denen Du im Alltag vermutlich gar nichts anmerken würdest. Also... Depressionen sind behandelbar, aber ganz sicher nicht leicht. Oft treten sie auch noch auf in Kombination mit anderen affektiven oder emotional instabilen Störungen auf. Depressionen sind definitiv eine sehr schwerwiegende Erkrankung, welche nur schwer zu behandeln ist.

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  2. Hallöchen. Ich kenne dieses Problem bei mir und meiner Partnerschaft war es ähnlich. Ich hatte in meiner schweren Depression auch keine Lust auf Sex es war nur Erfüllungsarbeit.Bei mir war es noch etwas mehr wieso ich mich verschlossen habe ich frage mich jetzt ist es bei Deiner Frau vllt ähnlich? Fühlt sie sich als Frau als Freundin als Affäre oder fühlt sie sich nur Wertvoll wenn sie Dir Sex gibt? Also ich meine wie viel ist sie Dir Wert ganz ohne das Thema Sex und Berfiedigung? Nur ein Tip worüber es sich als Mann lohnt nach zu denken um heraus zu finden ob es vllt mehr ist als nur die Depression denn eins ist klar depressive Menschen sind arg feinfühlig vllt empfindet sie das sie für Dich nur Wertvoll ist wenn sie im Bett funktioniert?! Vllt aber ist es für Dich gar nicht so und man hätte die Möglichkeit ein Mißempfinden zu klären. Das mit der offenen Beziehun hat mir beim lesen schon arg weh getan muß ich sagen. Ich versuche Dich zu verstehen wirklich nur wenn mein Partner krank werden würde ganz gleich was er hat und keinen Sex mehr machen kann würde ich ihm nicht auch noch die letzte Würde nehmen in dem ich eine offene Beziehung möchte oder ihn verlasse.. Es ist so schwer und schade für Euch ich hoffe sehr das Ihr es hin bekommt. Bite versuch Sex nicht als Mittelpunkt des Lebens zu machen so wird sie sich mehr u mehr Deine Nähe wünschen. Alles Liebe Euch.

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  3. Das klingt sehr vertrackt und kommt mir bekannt vor. Ich habe mich von meinem Mann so unter Druck gesetzt gefühlt, dass ich irgendwann überhaupt nicht mehr wusste, wie sich mein eigenes Begehren, meine eigene Lust anfühlt. Es war wie beim Hasen und dem Igel, es war nie genug und nie gut genug und ich habe mich irgendwann kaum noch gespürt, bin mit meinem Bewusstsein irgendwie aus meinem Körper rausgegangen, wenn er sich mir genähert hat.
    Ich lese gerade das Buch "Psychologie der sexuellen Leidenschaft" von David Schnarch, das kann ich sehr empfehlen.

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