Es ist zwischen fünf und sechs Uhr morgens. Es wird bereits
hell. Es regnet, ich sitze auf meinem Fahrrad und trete in die Pedale als gäbe
es kein Morgen mehr. Der Regen macht mir nichts aus, nein. Ich will nach Hause,
einfach nach Hause. Vor einer halben Stunde habe ich meinen „Gig“ als DJ auf
der Hochzeit einer Kollegin zu Ende gebracht. Seit 23:00 Uhr stand ich an den
Reglern, habe den Laden gerockt. Definitiv. Das steckt mir jetzt in den Kochen.
Ebenso wie die vier Bier und die – geschätzten – fünf Cola-Rum. Ich komme
bestens voran. Und ich wälze Gedanken, während ich den Vögeln bei ihrem
Morgenkonzert zuhöre.
Die Braut, meine Kollegin, und ihr Bräutigam – besser gesagt zu
diesem Zeitpunkt bereits: meine Kollegin Rita und ihr Mann Udo – hängen
verliebt und (vermutlich ebenso) betrunken aneinander, knutschen was das Zeug
hält, lassen lasziv ihre Hüften zur Musik kreisen. Udos Hemd hängt schon seit
Stunden aus der Hose, der Schulterträger von Ritas Kleid rutscht herunter. Ich
lege „Soldier of Love“ von Sade auf. Jetzt kommt erst richtig Schwüle auf, Rita
und Udo kippen fast um, Udo packt seiner Frischvermählten mit beiden Händen an
die Hinterbacken. Ich frage mich, ob sie „es“ jetzt gleich hier tun oder ob sie
es wenigstens noch bis zum Schuppen schaffen. Alkohol hin oder her, das Glück,
das Begehren und die Ausgelassenheit der beiden ist so präsent, so greifbar, so
echt.
Paula und ich haben so etwas nie erlebt. Oder nie gelebt.
Vielleicht konnten wir es nicht leben. Als wir zusammenkamen, war Paulas ältere
Tochter schon sieben Jahre alt. Wir konnten nicht zusammen ausgehen wie etwa Rita
und Udo. Paula hat sich nie so viel aus den Clubabenden gemacht wie die anderen
aus der Clique, die zunächst einmal meine Clique war. Paula konnte den
absoluten Albernheiten, die meine Freunde und ich abgezogen haben, nie etwas abgewinnen.
Noch heute rollt sie die Augen nach oben, wenn die alten Zoten kolportiert
werden. Bis zur Oberkante Unterlippe saufen hat Paula nie gemacht. Sie hatte
früh Verantwortung für ihre Tochter.
Rita und Udo haben erst zusammen gewohnt, bevor sie ein Kind
hatten. Sie hatten ihre Zweisamkeit, haben sich arrangiert, zusammengerauft und
ein gemeinsames Regelwerk entwickelt. Erst dann haben sie eine Familie
gegründet. Paula und ich waren nie allein. Lilith, Paulas Tochter, war immer
dabei. Sicher, nicht immer physisch anwesend, aber da. Ein Regelwerk gab es
auch: das von Paula und Lilith. Meine Ideen und Vorstellungen hier zu integrieren
– schier unmöglich.
Nur noch ein paar Hundert Meter bis nach Hause, die Jacke
hat ihre Funktion aufgegeben, das Regenwasser rinnt mir die Unterarme hinunter.
Ich schmunzle über das Geschnatter der Amseln und freue mich auf die Dusche. Habe
ich Paula je in der Öffentlichkeit knutschend und hüftkreisend mit voller
Pranke an den Po gefasst? Ich erinnere mich nicht. Hätte sie es überhaupt
zugelassen? Ich habe die 20 Kilometer in weniger als 45 Minuten geschafft. Ich
fühle mich sauwohl. Die Party war der Hit; ich habe das Brautpaar nicht
enttäuscht. (Das war zuvor meine größte Sorge.) Als ich vom Rad steige, kriege
ich fast Wadenkrämpfe. Ich denke: „Auf, auf alter Mann, mal sehen, was du an
diesem Morgen noch zustande bringst!“
Oben angekommen streune ich ein bisschen durch die Wohnung –
zum abdampfen. Dann nehme ich eine Dusche. Nicht sehr heiß, ich will nicht
gleich wieder in die Bettwäsche saften. Eine Stunde später kommt Paula von der
Nachtschicht nach Hause. Sie setzt sich kurz auf die Bettkante, stellt den
Wecker. Vermutlich noch in der Abwärtsbewegung schläft sie ein. Ich sehe sie
an, höre ihr tiefes Atmen. Sie liegt nur eine Armlänge von mir entfernt.
Und doch Sphären von mir weg.
Lieber Paul,
AntwortenLöschenich lese deinen Blog seit einigen Monaten. Ich bin sehr dankbar für das, was du hier schreibst. Ich selbst bin seit einem Jahr depressiv, die Veranlagung dafür hatte ich schon immer. Mein Freund, mit dem ich seit sechs Jahren zusammen bin, unterstützt mich so sehr er kann und trotzdem fehlen viel zu oft die Worte zwischen uns und die Fähigkeit, seine Bedürfnisse auszudrücken, ohne sich gegenseitig als vorwurfsvoll wahrzunehmen.
Ein Blick hierher hilft mir oft sehr, das Verständnis für meinen Partner nicht zu verlieren und Dinge zu verstehen, die schwer auszusprechen und noch schwerer anzunehmen sind. Deine Einträge rufen mir in Erinnerung, was für eine bewundernswerte Selbstlosigkeit Menschen oft aufbringen, die mit Depressiven zusammenleben. Dafür, noch einmal, vielen Dank.
Hallo Paul,
AntwortenLöschenich finde deinen Blog sehr gut und hilfreich. Mach weiter so, du kannst auf diese Weise vielen depressiv Erkrankten helfen mit ihrer Krankheit besser klar zu kommen.
Hi Paul, ich schließe mich dem Kommentar von Dave an. Finde deine Seite und die Blogbeiträge wirklich gut und interessant. Freue mich schon auf weitere Beiträge.
AntwortenLöschenDein Blog ist wirklich gut. Deine Beiträge lesen sich klasse und irgendwie sind sie aufmunternd - trotz der immer wieder auftretenden Melancholie.
AntwortenLöschenIch danke dir!