Samstag, 22. Juni 2013

Der halbe Liter - Teil 1: Der Zusammenhang der Dinge

Ein ganz normaler Donnerstag. Das kann man lächelnd positiv meinen oder sarkastisch negativ. Paula hat heute um acht Uhr Chorprobe. Das ist normal. Das weiß ich. Ich weiß auch, dass sie es nicht so gerne hat, davor bis ultimo beim Abendessen zu sitzen. Ich sollte also um sieben Uhr zuhause sein. Das will ich auch. Klappt aber nicht. Ein Kunde ruft mich an und quasselt mir ein Ohr ab. Ich laufe erst um zwanzig nach sieben ein. Das Essen steht schon auf dem Tisch. Paula fordert den Jüngsten auf, sich an den Tisch zu setzen (der Ältere ist auf Klassenfahrt). Mir tropft der Schweiß über Gesicht, Arme und den Rücken hinunter. Es ist heiß, ich bin wie ein Verrückter geradelt. Mir bleiben zwei Minuten, um nach oben zu rennen, ein Handtuch zu holen, um zu verhindern, dass ich in das Essen triefe.

Die Pizza sieht sehr lecker aus. Es gibt zwei Sorten: eine mit Ziegenkäse, Oliven und Schinken, die andere mit Salami, Tomaten und „normalem“ Käse. Ich nehme die mit Ziegenkäse. Der Junge gießt sich Multivitaminsaft in ein Weizenbierglas bis es halb voll ist. Den Rest füllt er mit Mineralwasser auf. Ich angle mir die Salatschüssel, mische nochmal durch. Dann … Dann passiert etwas, das sich anhört und aussieht, als hätte jemand Annie Wilkes (Kathy Bates in dem Film „Misery“) erst unter Drogen und dann unter Strom gesetzt:

Paula kreischt, schreit, brüllt, springt auf, hopst auf und ab. Ich erstarre, Salat und Besteck fallen mir aus der Hand, ich stiere erschrocken und fassungslos in die Szenerie. Ein halber Liter Multivitaminsaftschorle hat sich über die Tischkante auf Paulas Hose und Stuhl, über den Sisalteppich und über ca. zwei Quadratmeter des Parketts ergossen. Paulas Stimme überschlägt sich, kippt ins Hysterische. Der Junge weint. Ich reiße mir das schweißgetränkte Handtuch vom Nacken, schleudere es Paula entgegen und brülle: „Jetzt mal halblang, es ist nur Saft!“ Paula jault jetzt eher, als das sie artikuliert. Ich tippe auf einen kurzen heftigen Exkurs über Karotin, das man nicht mehr aus dem Teppich bekäme. Den Rest verstehe ich nicht mehr. Paula hat sich zu Boden gestürzt und rubbelt wie wild auf dem Saftfleck herum. „Mann, Mann, Mann“, stoße ich hervor. Das versteht Paula (mit Recht?) als Verbalattacke gegen sich. Sie knallt das nun zusätzlich mit Saft versaute Handtuch auf den Boden, rennt nach oben. „Verdammte Scheiße, wie oft habe ich euch Kindern gesagt, ihr sollt die Gläser oberhalb der Teller hinstellen und nicht rechts oder links davon?“, plärrt sie dem Jungen von halber Treppenhöhe aus entgegen. Der schluchzt nur noch. Paula ballert weiter: „Ich will auch mal einen Abend entspannt zuhause verbringen. Ich will auch mal nicht einkaufen müssen nach dem Dienst. Ich will mich auch einmal nur an den gedeckten Tisch setzen. Ich hätte auch gerne mal um sieben Uhr gegessen!“

Ich spüre, dass ich jetzt gleich explodiere. Das wäre normal. Wie dieser Donnerstag eben. Aber ich weiß, wie es um Paula steht. Vor allem, wenn sie mehrere Tage hintereinander Dienst hatte. Ich kralle meine Hände in das Sitzkissen, sehe nach unten, hole tief Luft. In mir kocht es. „Was hat das eine mit dem anderen zu tun?“ Ich stelle diese Frage nicht. Ich denke sie nur. Stattdessen kacke ich den Jungen an – er könne sich ja auch mal ein einziges Wort der Entschuldigung aus seinem Sturschädel quälen. Weinend rennt er an Paula vorbei nach oben, knallt seine Zimmertür zu und schließt ab. Paula zieht sich weiter vor sich hin fluchend um.

Ich habe keine Lust auf Salat. Und die Pizza schmeckt auch nicht mehr.



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