Samstag, 22. Juni 2013

Der halbe Liter - Teil 2: Präventivmaßnahme

Paula kreischt, schreit, brüllt, springt auf, hopst auf und ab. Ich erstarre, Salat und Besteck fallen mir aus der Hand, ich stiere erschrocken und fassungslos in die Szenerie. Ein halber Liter Multivitaminsaftschorle haben sich über die Tischkante auf Paulas Hose und Stuhl, über den Sisalteppich und über ca. zwei Quadratmeter des Parketts ergossen. Paulas Stimme überschlägt sich, kippt ins Hysterische. Der Junge weint. Ich reiße mir das schweißgetränkte Handtuch vom Nacken, schleudere es Paula entgegen und brülle: „Jetzt mal halblang, es ist nur Saft!“ Paula jault jetzt eher, als das sie artikuliert. Ich tippe auf einen kurzen heftigen Exkurs über Karotin, das man nicht mehr aus dem Teppich bekäme. Den Rest verstehe ich nicht mehr. Paula hat sich zu Boden gestürzt und rubbelt wie wild auf dem Saftfleck herum. „Mann, Mann, Mann“, stoße ich hervor. Das versteht Paula (mit Recht?) als Verbalattacke gegen sich. Sie knallt das nun zusätzlich mit Saft versaute Handtuch auf den Boden, rennt nach oben. „Verdammte Scheiße, wie oft habe ich euch Kindern gesagt, ihr sollt die Gläser oberhalb der Teller hinstellen und nicht rechts oder links davon?“, plärrt sie dem Jungen von der halben Treppe aus entgegen. Der schluchzt nur noch. Paula ballert weiter: „Ich will auch mal einen Abend entspannt zuhause sein. Ich will auch mal nicht einkaufen müssen nach dem Dienst. Ich will mich auch einmal nur an den gedeckten Tisch setzen. Ich hätte auch gerne mal um sieben Uhr gegessen!“


Ich spüre, dass ich jetzt gleich explodiere. Das wäre normal. Wie dieser Donnerstag eben. 

Aber ich halte mich zurück. Paula hat mehrere Tage hintereinander Dienst gehabt. Sie ist sehr angespannt, sie hat in den letzten Nächten sehr schlecht geschlafen. Ich möchte nichts lieber, als sie jetzt mal so richtig anmotzen, eine Erklärung von ihr zu fordern. Eine Erklärung dafür, was die Schusseligkeit unseres Kindes damit zu tun hätte, dass sie … tä, tä, tä … auch mal um sieben Uhr hätte essen wollen. Ich möchte sie am liebsten in überspitzt zynischem Ton fragen, warum sie denn nicht einfach um sieben Uhr isst, wenn sie doch – ganz normalerweise SCHON – um acht Uhr Chorprobe hat. Ich würde schließlich nicht erwarten, dass sie auf mich wartet. Ich nicht. Ganz bestimmt nicht. (Das stimmt übrigens! Ich wünsche mir oft, dass sie das tut. So könnten viele Streitigkeiten vermieden werden.)

Ich halte mich zurück. Denn am Samstag sind wir zu einem der edelsten und hochkarätigsten Bälle der Region eingeladen. Einer meiner (Geschäfts)freunde möchte sich dafür bedanken, dass ich ihn vor vier Jahren als Lieferanten für die Agentur verpflichtet habe und er nun sehr respektablen Umsatz mit uns macht. Ich möchte, dass Paula und ich angemessen entspannt und stimmig gelaunt dort hingehen. Aufregungen, Streitigkeiten, Zerwürfnisse, die nicht mehr geklärt werden können, vergiften die Atmosphäre. Also versuche ich Eklats zu vermeiden. Leider hat der Junge jetzt das Weizenbierglas umgestoßen. Ich bin sauer. Meine schöne Taktik ist schlicht – sorry – am Arsch. Ich kacke den Jungen an.

Als Paula zur Chorprobe gegangen ist, gehe ich nach oben, klopfe an die Zimmertür und bitte ihn, aufzumachen. Er kommt heraus, sieht mich mit verheulten Augen an. Ich schlage ihm vor, gemeinsam zu versuchen, den Saftfleck auf dem Teppich zu bearbeiten. Vielleicht sei ja doch noch etwas zu retten. Mit einer Lauge aus Wollwaschmittel und lauwarmem Wasser, einer frischen Wurzelbürste, einem Autoschwamm und zwei alten Handtüchern beackern wir den Teppich. Volle zwanzig Minuten lang. Wir legen weitere Handtücher und alte Zeitung darunter, damit alles besser trocknen kann.

Danach essen wir zusammen ein Stück Pizza. Ich eines mit Ziegenkäse, der Junge eines mit Salami. Ich denke, es schmeckt uns.

(Epilog: Der Teppich ist spitzenmäßig geworden! Sogar all die anderen alten Flecken sind rausgegangen. Paula hat sich, wenngleich etwas verhalten, gefreut darüber.)


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