Freitag, 12. April 2013

Der Stein der Erholung

Dräuend hängt er über dem Wasserspiegel. Stetig, aber langsam vergrößert er sich. Unmerklich fast. Stückchen für Stückchen. Nur ein kleines bisschen noch. Er gerät aus dem Gleichgewicht. Ein Zittern. Er löst sich. Und stürzt. Durchdringt die Wasseroberfläche. Mit einem weichen, verwirrenden „swuop“ taucht er ein. Sein tiefes Blau zerplatzt in der klaren Flüssigkeit, wird dort bis zur Unkenntlichkeit verdünnt. Der nächste Tropfen dräut. Und fällt. Und der nächste … „swuop“, „swuop“, „swuop“ ... mit der Zahl der Tropfen steigt die Konzentration des Blaus.

Genauso tropft der Alltag in die Erholung des Urlaubs. Ach, im Grunde fängt es doch schon auf der Heimfahrt an: Kurz vor dem Ziel gibt es – „swuop“ – einen ätzenden Acht-Kilometer-Feierabendstau auf der Nord-/Südtangente. Paula sitzt fast wortlos im Auto. Sie ist die Dritte, die in der letzten Woche von Montezumas Rache heimgesucht wird: Es fängt in der Nacht vor der geplanten Heimfahrt an. Paula ist geschwächt, trinkt wenig, um die Fahrt so – sagen wir einmal – ereignisarm wie möglich zu halten.

Der Samstag bleibt trotzdem entspannt. Wir gehen alle zusammen einkaufen und besorgen das Geschenk für den Freund unseres Jüngsten, zu dessen Übernachtungsparty er eingeladen ist. Paula und ich sind am Abend bei Ansgar und Beate zum Essen eingeladen. Beate übertrifft sich mit sechs Gängen, an denen sie seit 16:00 Uhr köchelt, mal wieder selbst. Paula und ich sollten eigentlich wegen der Nachwirkungen der Magen-/Darmgeschichte vorsichtig sein. Leider klappt das nicht. Alleine des formidablen Sauvignon Blancs wegen, den Ansgar ausschenkt.

Am Sonntag findet das Sondertraining für den Großen statt; Paula fährt ihn früh um 9:00 Uhr hin. Um 14:00 Uhr – „swuop“, „swuop“ – läutet das Telefon: Hartes Tackling, schwere Bänderdehnung. Paula muss ihn wieder abholen. Am Abend erwischt Montezuma auch den Kleinen. Das Wochenende ist gelaufen. In der Nacht kriege ich Magenkrämpfe. Sechs Gänge, der Sauvignon Blanc und das ganze Heckmeck fordern ihren Tribut von meinen gestressten Innereien. Folglich bleiben die Kinder und ich am Montag zuhause; Paula muss mit dem Großen am Nachmittag zum Orthopäden. (Drei Wochen fällt das Training dann erst mal aus.)

Dienstag, Mittwoch und Donnerstag bleiben unauffällig. Bis auf – „swuop“ – den Antrag für Paulas Therapieplatz. Vom Umfang ganz abgesehen, sind (erwartungsgemäß) sowohl die Fragen, als auch die vorgegebenen ankreuzbaren Antworten vollkommen realitätsfern. „Teilzeitarbeit mit Schichtbetrieb“ zum Beispiel existiert in der Wahrnehmung der Leistungsträger überhaupt nicht. Nun denn. Als Paula am Donnerstagabend zur Chorprobe geht, habe ich endgültig das Gefühl, es ist wie immer. Alltag. Urlaubserholung adé.

Am Freitag hat Paula die erste Nachtschicht nach dem Urlaub. Ich spüre ihre Anspannung schon am Donnerstag, als wir uns schlafen legen. „swuop“. Doch nicht nur das: Im Pflegeheim, in dem Paulas demente Mutter lebt, findet das jährliche Frühlingsessen statt. Das ist eine wirklich sympathische Veranstaltung, für die die Mitarbeiter das Foyer des Heims liebevoll in ein Restaurant verwandeln. Sie ziehen sich weiße Schürzen an und bedienen Bewohner und Gäste. Paula geht mit ihrer Schwester hin. Als sie danach und damit vor der Nachtschicht nochmal kurz nachhause kommt, ist ihre Laune im Keller. Sie geht direkt nach oben. Ihr Gruß ist kaum zu vernehmen. Ich halte es noch siebeneinhalb Minuten auf dem Sofa aus. Dann folge ich ihr. Sie liegt auf dem Bett. Das Licht ist aus. Der Regen prasselt auf das Dachfenster. Paula ist schlicht am Ende. Der Termin für die – „swuop“ – Zahnoperation ihrer Mutter steht seit gestern fest. Das ist nicht irgendein Routineeingriff: Alle verbliebenen Zähne, besser Zahnstümpfe müssen entfernt werden. Das Infektionsrisiko ist nicht mehr kalkulierbar. Paula und ihre Schwester mussten als Vormünder entscheiden, ob diese Operation durchgeführt wird. Zweifel darüber plagen Paula jetzt. Und in 30 Minuten beginnt die Nachtschicht.

Dunkelblau.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen