Paula ruft
fast jeden Tag an. Oder die Jungs rufen sie an. Dazu fordere ich sie jeden Tag
auf. Ich selbst rufe Paula nicht an. Ab und zu schicke ich ihr eine SMS. Mit
den bekanntschaftlichen Gossip-News oder den Zensuren der sechsten bzw. achten
Realschulklassen. Ich halte mich zurück. Weil ich – wohl typisch Mann – erstens
nicht eben der begnadete Telefongesprächspartner bin. Zweitens, weil ich will,
dass Paula wirklich Abstand gewinnt, einen Überblick bekommt. Über ihre
Situation. Über uns. Als Paar. Uns als Familie. Und über die Lage in der Klinik. Ich
sage nicht „Arbeit“ in der Klinik. Denn die Arbeit als solche ist es nicht.
Paula geht in ihrem Beruf auf. Sie kann darin leben. Die Lage in der Klinik –
das sind die Überstunden, die absurden Erwartungen an die Teilzeitkräfte, die Springerdienste
leisten sollen. Die Lage in der Klinik, das ist auch der Druck, dem sich Paula
aussetzt, wenn sie einerseits für eine Kollegin einspringen will, andererseits
aber spürt, dass „ihre drei Männer“ unsichtbar die Augen rollend denken: „Nicht
schon wieder!“ Und manchmal spürt Paula, dass diese Gefälligkeit
ihr selbst nicht gut tut.
Das haben
wir ’zig Millionen Mal durchgekaut. Und jetzt sagt Paula am anderen Ende der
Leitung: „Es ist die Arbeit.“ Ich frage, was sie damit meint. In ihren eigenen
Worten schildert mir Paula den Unterschied zwischen „Arbeit“ und „Lage“ in der
Klinik. Das habe sie „in den paar Einzelgesprächsstunden“ als Ursache allen
Übels ausgemacht. Ich nicke Paula zu. Natürlich sieht Paula das nicht. Ich sage
ihr, dass mir das schon seit ewigen Zeiten klar ist, ohne dabei belehrend zu
wirken. Das klappt einigermaßen. Vorsichtig klopfe ich an Paulas Gedanken- und
Gefühlskästlein an, ob sie schon Schlüsse für sich daraus gezogen habe. Paulas
Antwort kracht in meinen Kopf, wie der Baseball in Papas Weichteile in einem
dieser beknackten „Upps!-Die-Pannenshow“-Videos: „Langfristig werde ich nicht
mehr an der Klinik bleiben. Ich habe mich entschlossen, die Zusatzausbildung "Familienhilfe" zu machen. Ich habe mich schon erkundigt, ich kann im
März nächsten Jahres anfangen.“ (Soviel zum Thema Abstand gewinnen.) Ich bin
platt. Ich schaffe es nicht, etwas dazu zu sagen. Zu lange schon geht Paula mit
dem Gedanken an diese Qualifikation schwanger. Zu oft hat sie den Plan verworfen:
zu alt, zu teuer, zu aufwändig mit Familie, zu dies …, zu das …“. Nach ein paar
ewigen Sekunden schwenke ich um: „Und sonst? Haben denn die ganzen Sessions
noch was gebracht?“ „Ich glaube, ich muss lernen, öfter und klarer ‚Nein‘ zu
sagen“, antwortet Paula. „Mein Gott, jetzt hat sie’s“, sagte einst Professor
Higgins. Ich sagen nur: „Ja.“
Paula ist zurück.
Morgen ist ihr erster Arbeitstag nach der Therapie. Wir bringen zusammen die Küche
in Ordnung. Wir wollen die „Tagesschau“ mitbekommen. „Na, da bin ich ja mal
gespannt. Die Kollegen freuen sich sicher, dass du wiederkommst“, versuche ich
Paula aufzumuntern. Ohne jeglichen sarkastischen Hintergedanken. Paula ist
skeptisch: „Hoffentlich wird das nicht so heftig.“
Ich komme, ab sofort wieder: wie immer, von der Arbeit nach Hause, während Paula Abendessen
macht. Ich komme in die Küche. Paulas Schultern sind schier auf die Hüfte
heruntergefallen: Es war heftig. Ich denke. „Scheiße“, gehe auf Paula zu, lege nur meine Hand an ihr Schulterblatt. Für ein „oh je, oh je“ habe ich gerade
noch Zeit, bevor Paula lostobt und losheult: „Die haben doch wohl den Arsch
auf. Nur weil ich ein paar Wochen weg war und keine Wünsche für den Dienstplan
eintragen konnte. Jetzt habe ich von den sieben Wochenenden bis Weihnachten an
fünfen Dienst.“ Das Abendessen gleicht einer Schweigeandacht.
Am nächsten Morgen
mache ich Paula einen Vorschlag, der mir während der Nacht in den Sinn kam: „Zähl‘
doch mal, an wie vielen Wochenenden deine lieben Kolleginnen und Kollegen arbeiten sollen.“
(Dieses "lieben" sage ich diesmal durchaus mit
sarkastischen Hintergedanken.) Dieser Vergleich ist ernüchternd. Bereits zwei Tage später konfrontiert Paula
ihre Einsatzleitung mit der Aufstellung. Ihre Chefin stellt den Dienstplan
sofort um; an einem der Wochenenden übernimmt sie gar selbst den Dienst.
Paula hat es
geschafft: Sie hat „nein“ gesagt.
hallo Paul!
AntwortenLöschenWieder schön von dir zu lesen. Ich hoffe, du bloggst jetzt wieder öfters.
LG Nadine!
SUPER!!! :-) Weiter so :-)
AntwortenLöschenEs ist immer einfacher zu sehen, was beim Anderen schief läuft als bei einem selber. Das Phänomen kennst du sicher auch. Und noch viel schwerer ist es, Verhaltensmuster zu verändern, die man jahrelang hat. Die eingefahrenen Spurrillen zu verlassen, auf denen man sich bisher durch sein Leben bewegt hat. Die Zeit nach dem Klinikaufenthalt ist hammerhart, denn nun müssen den Erkenntnissen Taten folgen und das macht Angst. Ich wünsche euch viel Glück!
AntwortenLöschenToll, dass sie "Nein" gesagt hat!!
AntwortenLöschenUnd noch "toller", dass es geklappt hat!