Sonntag, 9. Februar 2014

Arbeit

„Es ist die Arbeit.“ Paula ruft mich aus der Therapieklinik an. Bereits drei von fünf Wochen ist sie dort. Langsam fange ich an, mir Gedanken zu machen. Darüber, wie es sein wird, wenn sie wieder zuhause ist. Wenn wir alle wieder „echten“ Alltag haben.

Paula ruft fast jeden Tag an. Oder die Jungs rufen sie an. Dazu fordere ich sie jeden Tag auf. Ich selbst rufe Paula nicht an. Ab und zu schicke ich ihr eine SMS. Mit den bekanntschaftlichen Gossip-News oder den Zensuren der sechsten bzw. achten Realschulklassen. Ich halte mich zurück. Weil ich – wohl typisch Mann – erstens nicht eben der begnadete Telefongesprächspartner bin. Zweitens, weil ich will, dass Paula wirklich Abstand gewinnt, einen Überblick bekommt. Über ihre Situation. Über uns. Als Paar. Uns als Familie. Und über die Lage in der Klinik. Ich sage nicht „Arbeit“ in der Klinik. Denn die Arbeit als solche ist es nicht. Paula geht in ihrem Beruf auf. Sie kann darin leben. Die Lage in der Klinik – das sind die Überstunden, die absurden Erwartungen an die Teilzeitkräfte, die Springerdienste leisten sollen. Die Lage in der Klinik, das ist auch der Druck, dem sich Paula aussetzt, wenn sie einerseits für eine Kollegin einspringen will, andererseits aber spürt, dass „ihre drei Männer“ unsichtbar die Augen rollend denken: „Nicht schon wieder!“ Und manchmal spürt Paula, dass diese Gefälligkeit ihr selbst nicht gut tut.

Das haben wir ’zig Millionen Mal durchgekaut. Und jetzt sagt Paula am anderen Ende der Leitung: „Es ist die Arbeit.“ Ich frage, was sie damit meint. In ihren eigenen Worten schildert mir Paula den Unterschied zwischen „Arbeit“ und „Lage“ in der Klinik. Das habe sie „in den paar Einzelgesprächsstunden“ als Ursache allen Übels ausgemacht. Ich nicke Paula zu. Natürlich sieht Paula das nicht. Ich sage ihr, dass mir das schon seit ewigen Zeiten klar ist, ohne dabei belehrend zu wirken. Das klappt einigermaßen. Vorsichtig klopfe ich an Paulas Gedanken- und Gefühlskästlein an, ob sie schon Schlüsse für sich daraus gezogen habe. Paulas Antwort kracht in meinen Kopf, wie der Baseball in Papas Weichteile in einem dieser beknackten „Upps!-Die-Pannenshow“-Videos: „Langfristig werde ich nicht mehr an der Klinik bleiben. Ich habe mich entschlossen, die Zusatzausbildung "Familienhilfe" zu machen. Ich habe mich schon erkundigt, ich kann im März nächsten Jahres anfangen.“ (Soviel zum Thema Abstand gewinnen.) Ich bin platt. Ich schaffe es nicht, etwas dazu zu sagen. Zu lange schon geht Paula mit dem Gedanken an diese Qualifikation schwanger. Zu oft hat sie den Plan verworfen: zu alt, zu teuer, zu aufwändig mit Familie, zu dies …, zu das …“. Nach ein paar ewigen Sekunden schwenke ich um: „Und sonst? Haben denn die ganzen Sessions noch was gebracht?“ „Ich glaube, ich muss lernen, öfter und klarer ‚Nein‘ zu sagen“, antwortet Paula. „Mein Gott, jetzt hat sie’s“, sagte einst Professor Higgins. Ich sagen nur: „Ja.“

Paula ist zurück. Morgen ist ihr erster Arbeitstag nach der Therapie. Wir bringen zusammen die Küche in Ordnung. Wir wollen die „Tagesschau“ mitbekommen. „Na, da bin ich ja mal gespannt. Die Kollegen freuen sich sicher, dass du wiederkommst“, versuche ich Paula aufzumuntern. Ohne jeglichen sarkastischen Hintergedanken. Paula ist skeptisch: „Hoffentlich wird das nicht so heftig.“

Ich komme, ab sofort wieder: wie immer, von der Arbeit nach Hause, während Paula Abendessen macht. Ich komme in die Küche. Paulas Schultern sind schier auf die Hüfte heruntergefallen: Es war heftig. Ich denke. „Scheiße“, gehe auf Paula zu, lege nur meine Hand an ihr Schulterblatt. Für ein „oh je, oh je“ habe ich gerade noch Zeit, bevor Paula lostobt und losheult: „Die haben doch wohl den Arsch auf. Nur weil ich ein paar Wochen weg war und keine Wünsche für den Dienstplan eintragen konnte. Jetzt habe ich von den sieben Wochenenden bis Weihnachten an fünfen Dienst.“ Das Abendessen gleicht einer Schweigeandacht.

Am nächsten Morgen mache ich Paula einen Vorschlag, der mir während der Nacht in den Sinn kam: „Zähl‘ doch mal, an wie vielen Wochenenden deine lieben Kolleginnen und Kollegen arbeiten sollen.“ (Dieses "lieben" sage ich diesmal durchaus mit sarkastischen Hintergedanken.) Dieser Vergleich ist ernüchternd. Bereits zwei Tage später konfrontiert Paula ihre Einsatzleitung mit der Aufstellung. Ihre Chefin stellt den Dienstplan sofort um; an einem der Wochenenden übernimmt sie gar selbst den Dienst.

Paula hat es geschafft: Sie hat „nein“ gesagt.


4 Kommentare:

  1. hallo Paul!
    Wieder schön von dir zu lesen. Ich hoffe, du bloggst jetzt wieder öfters.
    LG Nadine!

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  2. SUPER!!! :-) Weiter so :-)

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  3. Es ist immer einfacher zu sehen, was beim Anderen schief läuft als bei einem selber. Das Phänomen kennst du sicher auch. Und noch viel schwerer ist es, Verhaltensmuster zu verändern, die man jahrelang hat. Die eingefahrenen Spurrillen zu verlassen, auf denen man sich bisher durch sein Leben bewegt hat. Die Zeit nach dem Klinikaufenthalt ist hammerhart, denn nun müssen den Erkenntnissen Taten folgen und das macht Angst. Ich wünsche euch viel Glück!

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  4. Toll, dass sie "Nein" gesagt hat!!
    Und noch "toller", dass es geklappt hat!

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