Samstag, 15. Februar 2014

Entblößt

Meine Oma (besser: 'unsere Oma', schließlich habe ich eine Schwester) ist zeitlebens dabei. Ganz konkret dabei: vor Ort, im Ort, hier, nebenan, in ihren letzten Jahren sogar einfach oben im Studio. Als ich geboren werde, leben meine Eltern mit meinen Großeltern unter einem Dach; mein Vater bastelt 120 Kilometer entfernt an seinem Dipl. Ing. Wir ziehen – mein Vater hat fertig gebastelt und will nun Dr. Ing. werden – 120 Kilometer weiter in den Süden. Dort nimmt sich Oma eine kleine Wohnung, einen Steinwurf entfernt. Ich komme in die Schule, schwärme in der zweiten Klasse erstmals für ein Mädchen, bekomme die Mandeln herausoperiert, verbrenne mir beide Hände an einem Knallkörper und … ich darf, wenn ich am Wochenende bei Oma übernachte, „Bonanza“, „Tarzan“ oder „Am laufenden Band“ glotzen. Die echten Höhepunkte meiner Kindheit aber sind die Reisen mit Oma.

Nichts Spektakuläres, wir sind nicht wohlhabend, Oma sehr bescheiden. Meist fahren wir mit dem Bus, ich als Bub zwischen 'zig Rentnern. Oma und ich haben ein Doppelzimmer. Eine Woche lang schlafe ich Seite an Seite mit ihr. Das ist toll. Wenn um zehn Uhr abends in einem Rentnerkurort im Bayrischen Wald die Bürgersteige hochgeklappt werden, ist ein Bub in den Schulferien längst nicht müde. Dann beginnt Oma zu erzählen. Aus ihrem Leben, oft vom Krieg, von ihrem Mann, dem Rangierführer, der im zweiten Krieg ein Bein verloren hat und stirbt, als ich sechs Monate alt bin. Sie erzählt vom Hockeyclub, in dem sie als Mädchen gespielt hat und von ihrer Schwester, meiner Großtante, mit der sie sich immer streitet. (Auch noch, als beide weit über achtzig Jahre alt sind und Oma im Rollstuhl sitzt.) Meine liebste Geschichte von allen ist die:

„Nach dem Krieg hab‘ ich Hauswirtschafterin gelernt. Die erste Arbeit die ich bekam, war auf einem großen Gut. Als Küchenmamsell habe ich für den Herrn, seine Knechte und das übrige Gesinde gekocht. Mit der Zeit hat sich gezeigt, dass der Sohn des Herrn und ein Knecht mich gern hatten. Das war komisch, weil sich die beiden ständig in die Haare kriegten. Als ich eines Tages zufälligerweise mit den beiden Kerlen alleine in der Küche war, habe ich einen Apfel genommen, habe den vor den Augen der beiden abgeschleckt, auf den Tisch gelegt und gesagt: 'Wer in diesen Apfel beißt, der soll mich haben'.“ Und weißt du was, Bub? Der Knecht hat reingebissen.“ Der Knecht wird mein Opa.

In der Nacht in Mittenwald, als mir Oma diese Geschichte zum ersten Mal erzählt, will ich – das sei meiner kindlichen Neugier geschuldet – es genau wissen: Wie das alles so weiter ging, wie Mama auf die Welt kam und … wie es überhaupt kam, dass Mama auf die Welt kam. Auch das erzählt Oma in ihrer unvergleichlichen Art. Ehrlich gesagt – auch das sei meiner Jugend geschuldet – verstehe ich das alles nicht so recht. Ein Satz jedoch bleibt mir bis heute in Erinnerung: „Ach, weißt du, Bub, damals war das alles anders als heute. Der Opa und ich, wir haben uns nie nackt gesehen.“

Ich sehe meine Frau, Paula, nackt. Gestern Abend. Das erste Mal seit fünf Wochen: Ich komme die Treppe herauf, als sich Paula – die Tür steht offen – im Bad gerade umdreht, um ihren Schlafanzug vom Haken zu nehmen. In der Sekunde, die bleibt, ehe Paula die Tür hastig schließt, sehe ich Paula an. Ich sehe Paulas Körper an. Ich sehe ihn gerne an. Er ist schön. Ich vermisse ihn.

Der erste Bus fährt vorbei. Das ist um Viertel nach fünf. Meine Blase drückt, ich gehe ins Bad. Zurück, kuschle ich mich in die warmen Kissen und schiebe meine Hand unter Paulas Decke, lege sie einfach auf Paulas Körper. So wie ich es jeden verdammten Tag der letzten fünf Wochen mache. Paula reagiert nicht. So wie an jedem einzelnen Tag der letzten fünf Wochen. Ich bleibe dran. Ganz buchstäblich. Nur an Paulas Rücken. Mit meiner Hand. Ich tue nichts. Außer flach atmen. Mein Nacken verspannt sich. Wenig später fühlt es sich an, als würde meine Stirnhaut von Gummispannern nach hinten gezerrt. Ich muss die Position ändern, lasse Paula los. Da steht sie auf, geht ins Bad. Wenn ich – und das kann ich nahezu perfekt – Tageslicht und Verkehrsintensität richtig interpretiere, ist es jetzt halb sieben. Paula kommt wieder ins Bett. Sie legt sich hin. Ich atme flach. Lausche. Paula ist wach. Keine Bewegung. Keine Hand. Keine Nähe. Keine Paula. Kein Wir. Nichts.

Ich liege mit offenen Augen da, starre die Zweige des Nussbaums an, die sich vor dem Dachfenster in Wind und Halbdunkel bewegen. Irgendwie kommen mir Oma und ihre Geschichten in den Sinn. Ich spüre, dass Paula immer noch wach ist. Ich zögere einen Moment, stehe dann doch auf, packe mich in die muffigen Klamotten von gestern, die noch im Bad liegen. 

Es ist Samstag, die Digitaluhr am Herd zeigt rote „06:36“. Ich schreibe diesen Post.


2 Kommentare:

  1. Sie scheint toll, die Oma. Ich vermisse meine sehr.
    Alles Liebe dir.

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  2. Oh Mann, das ist doch scheíße! Diese Krankheit ist einfach Scheiße! Ich glaub, jeder Angehörige versteht dich!
    Es gibt kein "wir"... Nein, das gibt es nicht. Nicht solange die Krankheit tobt!
    Und es ist so gemein!

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