Samstag, 7. September 2013

Post

"Pauli“ – so nannte mich meine Mutter, als ich ein Kind war. (Bitte nicht weitersagen, ich habe das gehasst.) Wenn Sie mich „Paul“ nannte – das hörte ich schon an dieser überspitzen Betonung des „u“ – wusste ich: Jetzt wird es ernst. Oder unangenehm.

Wir sind gerade aus dem Urlaub gekommen. Die Post der letzten Woche stapelt sich vor der Wohnungstür. Die Nachbarn haben sie gesammelt. Paula öffnet die Tür, schiebt den Stapel beiseite. Damit ich mit den Reisetaschen rein kann. Die trage ich gleich nach oben. Die schmutzige Wäsche kommt direkt in den Wäschekorb. Als ich wieder nach unten komme, hat Paula die Post schon sortiert. Die Jahresabrechnung der Stadtwerke liegt obenauf. „Das mache ich jetzt nicht auf“, sagt Paula, „ich will mir nicht gleich die Laune verderben.“ Ich sage nur knapp „jow“, denn im letzten Jahr mussten wir 700 Euro nachzahlen.

Beim Abendessen lassen wir den Urlaub Revue passieren. Wie immer fragen wir die Kinder nach ihrem schönsten Urlaubserlebnis. Erwartungsgemäß ist das der Besuch bei der Tante und den Cousins selbst. Aber auch der Zoo und das Panorama von Yadegar Asisi kommen gut weg. Es ist ein harmonischer Abend. Ich spiele mit den Kindern noch eine Runde Trivial Pursuit. Paula kruschtelt in der Wohnung herum. Ich achte nicht weiter darauf.

„Paul“. Ich reagiere nicht. Vielleicht weil ich gerade die Frage beantworten soll, in welchem Land der Tag des 'Zahnziehers' gefeiert wird. „Paul“. Da ist es wieder. Dieses verhasst überspitzt betonte „u“. Es wird ernst. Oder unangenehm. Ich reagiere: „Was ist?“ „Kommst du mal bitte!“ Auch an diesem Ruf von Paula behagt mir die akzentuierte Betonung nicht. Ich werfe den Kindern ein Augenrollen zu und gehe ins Arbeitszimmer. Dort angekommen, schließe ich die Türe. Paulas Tonfall klingt nach Stadtwerken.

Paula sitzt am Schreibtisch. Sie hat ihr Gesicht in die Hände gestützt. Sie sieht mich an. Ihre Augen sind rötlich unterlaufen. Sie hat geweint. In aller Stille. Im Arbeitszimmer. Keine zwei Meter vom Trivial Pursuit entfernt. Ihre Laune ist buchstäblich augenscheinlich verdorben. Meine nun auch. Der Brief der Stadtwerke liegt ungeöffnet vor ihr auf dem Poststapel. Ein anderer Brief liegt vor ihr. Er sieht nicht weniger förmlich aus, als die Stromabrechnung. Allerdings ohne Tabelle. „Sie haben das genehmigt“, sagt Paula. Ich frage „Was?“ „Die Therapie“, sagt Paula. Wir schweigen.

Wir schweigen.

Wir schweigen.

„Was jetzt genau?“, frage ich nach einer Weile. „Die haben die Therapie genehmigt“, presst Paula knapp vor den wiederkehrenden Tränen heraus, „die Rentenversicherung hat mir eine stationäre Therapie genehmigt. Für fünf Wochen. Fünf Wochen. Paul.“ Ich freue mich. Wir lavieren seit fast einen halben Jahr an diesem Thema herum: Braucht Paula einen Klinikaufenthalt? Will sie das? Wie können wir das mit zwei schulpflichtigen Kindern organisieren? Wann? Zahlt die Krankenkasse eine Dorfhelferin? Bei wem stellt man wie, welchen Antrag? Welcher Psychiater kann den Antrag abzeichnen? Welche Klinik kommt in Frage? Wir hatten das alles geklärt. Und den Antrag gestellt. Die Psychiaterin hat für ihre Unterschrift sechs Wochen gebraucht. Wir sind währenddessen in den Alltag zurückgeschlittert, haben mit Paulas Depression gelebt. Manchmal schlecht, manchmal sehr schlecht. Manchmal gut. Selten sehr gut. Das war okay. Für mich. Bis zu einem gewissen Grad. Jetzt ist die Genehmigung da. Was nun?
„Die Psychiaterin hat gesagt, solche Anträge würden erst einmal abgelehnt“, klagt Paula. „Und dann …“, Paulas Stimme ist jetzt ganz dünn, „schau mal, wo die mich hinschicken wollen: Die Postleitzahl fängt mit einer '3' an. Das ist ja 500 Kilometer weg von hier.“ Mein Hirn wabert in seiner Karkasse hin und her, meine Knie werden weich. „Wieso das denn?“, schwappt aus meinem Mund. Wie soll Paula das wissen! Die Frage ist völlig blöde; meine Ratlosigkeit kommt vielleicht gerade deshalb zum Ausdruck. „Die sechs Stunden Fahrt stecken mir in den Knochen“, lüge ich, „ lass uns das morgen besprechen!“

Ich muss mich sammeln. Paula auch: Sie wälzt sich die ganze Nacht hin und her.

Von den Stadtwerken bekommen wir übrigens 230 Euro zurück.
Den Tag des Zahnziehers feiert man in Brasilien.

3 Kommentare:

  1. Paula soll deshalb sooo weit weg damit sie Weit weg von allem ist, Ihrem normalem Umfeld, der Arbeit,den Kindern und Dir. Damit soll verhindert werden das sie Tag täglich Besuch bekommt, und das sie zu Sich kommen kann.
    Hoffe die Reha tut Ihr gut.
    Die Dorffrau wie du sie nennst,denke das ist eine Haushaltshilfe, bekommt man wenn min. 1 Kind unter 12 ist, genauso wie eine Tagesbetreuung.
    Du kannst dich aber auch für die Zeit Krankschreiben lassen und bekommst dann Krankengeld von der Krankenkasse, das ist auch eine Möglichkeit. Weiter kann auch eine Person der Ihr Vertraut mit Kinder und Haushalt beauftragt werden, z.B. Eltern, Schwiegereltern Geschwister o.ä.
    Lass deine Frau diese Reha machen ohne das sie das Gefühl hat zuhause zu Fehlen. Erzähl ihr nur im Notfall von Problemen zuhause.
    Alles Gute
    Ramona

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  2. Lieber Paul, in den letzten Tagen habe ich mit vielen Menschen gesprochen, die einen stationären Aufenthalt mitgemacht haben. ALLE diese Leute haben mir eine sehr positive Resonanz dazu gegeben, sprachen sogar davon, nach dem Klinik-Aufenthalt "geheilt" gewesen zu sein. Manch einer hat es dann aber leider versäumt, weiter eine ambulante Therapie zu machen und sich dadurch den neuen Gesundheitsstand ein Stück weit verspielt. Ich selbst bin einer stationären Therapie noch immer ausgewichen. Aus Freiheitsliebe. Aus Individualismusdrang. Aus banaler Angst sicherlich auch. Und es sammelt sich ja auch so viel an, wenn man weg ist... trotzdem: die Erfahrungsberichte, die ich gehört habe, machen Mut. Wirklich. In einem viel viel kürzeren Zeitraum kann das aufgearbeitet werden, was in der ambulanten Therapie vielleicht Monate oder Jahre braucht! Mit Glück wird deiner Frau und euch allen da sehr geholfen, wenn ihr euch drauf einlasst. Auch wenn es bestimmt nicht leicht wird. Egal auf welcher Seite der Kliniktür. Viel Erfolg wünsche ich euch und PS. auch im Bereich der 3er-Postleitzahlen kann es ganz schön sein ;)

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  3. Lieber Paul, ich bin erst gerade auf deinen Blog gestoßen (und fange rückwärts an zu lesen) - Alles Gute für den Aufenthalt deiner Frau! - Ich wollte nur sagen, dass ich den Blogpost - unabhängig vom Inhalt - verdammt gut geschrieben finde: pointiert, Worte an richtigen Stellen, beeindruckend. Und ich finde es schön, dass du dir soviel Zeit nimmst dafür, alles zu reflektieren und zu versuchen, damit umzugehen.

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