Erst gegen Morgen – müde von der Urlaubsheimfahrt habe ich tief
geschlafen – geistern die Gedanken über diese „medizinische Rehabilitationsmaßnahme“,
den Ort und den Zeitpunkt durch meinen Kopf. Paula liegt neben mir. Hellwach.
Selbstverständlich. Ob sie überhaupt ein Auge zugemacht hat? Sie sieht
mitgenommen aus. Die Urlaubserholung ist verpufft. Über Nacht.
Viel zu früh stehen wir auf. Es ist Sonntag. Gemeinsam
machen wir Frühstück. In aller Ruhe. Oder besser: Ganz langsam. Ohne ein Wort. Als
die Kinder sich an den Tisch setzen, machen wir „gute Miene zum bösen Spiel“.
Das Spiel ist nicht böse – im Gegenteil. Eigentlich. Böse ist, was das Spiel
mit Paula macht: Sie isst fast nichts, am Kaffee nippt sie nur. Sie wirkt grau.
Abwesend. Alt.
Die Kinder sind wieder nach oben gespurtet. Sie hoffen, sie
müssen den Frühstückstisch nicht abräumen. Heute haben sie Glück. Paula und mir
ist der Tisch im Moment nämlich leidlich egal. Ich sehe zu Paula hinüber. Sie
zu mir. Als sich unsere Blicke treffen, fängt Paula an zu weinen. Leise zwar,
aber hemmungslos. Ich nehme ihre Hände in meine. Halte sie fest. Paula beruhigt
sich. Langsam. Nach einigen Minuten bringt sie ein paar Töne hervor: „Ich kann
das nicht.“
Dieses „das“ klingt fast verächtlich. Oder resigniert. Auf
jeden Fall abwertend. „Das“ ist doch gut. Es ist super. Es ist perfekt.
Eigentlich. Ich sehe auf unsere Hände und frage leise: „Was kannst du nicht?“
Ich rechne mit Antworten wie „die Therapie machen“ oder „schon in zwölf Tagen
anfangen“ oder „soweit von euch weg sein“. Paula aber sagt: „Das kann ich
meinen Kollegen nicht antun. Nein, das geht nicht.“
Paulas „das“ ist ein anderes als mein „das“. Paulas geht
weiter als meines. Ich stelle den Termin und den Ort in Frage. Wenn überhaupt. Paula
stellt den gesamten Therapieaufenthalt in Frage. Weil ihr Kollegen-Team durch
Einsparungsmaßnahmen so reduziert ist, dass schon ein einziger Krankheitsfall
Personalnotstand auslöst. Weil sie viele ihrer Kollegen seit vielen Jahren
kennt. Weil sie sie mag. Weil sie mit einigen sehr gut befreundet ist. Weil sie
Angst hat, dass diese Freundschaften zerbrechen. Und weil sie Angst hat vor
den Warum-und-wieso-Fragen.
Ich versuche Paula klarzumachen, dass das alles „Quatsch“ ist: Die realitätsfremde Sparpolitik ihres Arbeitsgebers kann nicht auf dem Rücken der Angestellten ausgetragen werden. Oder gar auf Kosten deren Gesundheit. Nach zwanzig Dienstjahren mit insgesamt vielleicht 30 Krankheitstagen ist eine – salopp gesagt – Auszeit völlig in Ordnung. Freunde, die sie deswegen fallen lassen, haben Paulas Freundschaft nicht verdient. (Auch meine nicht. Doch das nur am Rande. Für den Fall der Fälle.) Und Warum-und-wieso-Fragen muss sie nicht beantworten. Das weiß Paula als schweigeverpflichtete Klinikangestellte selbst am besten. „Dein Hemd ist dir doch näher als die Jacke“; ich schließe meinen Monolog.
Ich versuche Paula klarzumachen, dass das alles „Quatsch“ ist: Die realitätsfremde Sparpolitik ihres Arbeitsgebers kann nicht auf dem Rücken der Angestellten ausgetragen werden. Oder gar auf Kosten deren Gesundheit. Nach zwanzig Dienstjahren mit insgesamt vielleicht 30 Krankheitstagen ist eine – salopp gesagt – Auszeit völlig in Ordnung. Freunde, die sie deswegen fallen lassen, haben Paulas Freundschaft nicht verdient. (Auch meine nicht. Doch das nur am Rande. Für den Fall der Fälle.) Und Warum-und-wieso-Fragen muss sie nicht beantworten. Das weiß Paula als schweigeverpflichtete Klinikangestellte selbst am besten. „Dein Hemd ist dir doch näher als die Jacke“; ich schließe meinen Monolog.
Alle meine Worte helfen Paula nicht. Ihre Gedanken, ihre
Gefühle rasen wie auf dem „Silverstar“ im Europa-Park mit fast 130 Sachen auf
und ab. Und ähnlich wie in dieser Achterbahn reagieren Paulas Kopf und Bauch. Es
dreht sich alles, die Wahrnehmung verschwimmt für einen Augenblick. Ich spüre
ihre eiskalten Hände. Sie spricht nicht mehr. Für eine ganze Weile. Erst am
Abend spricht sie am Telefon mit ihrer Kollegin und Freundin Tine. Sehr lange
sogar. Als die Kinder schon im Bett sind, taut Paula auf: „Tine sagt genau das
gleiche wie du: Die Arbeit, die Kollegen, das alles muss mir scheißegal sein.“
Sie lächelt ein bisschen dabei.
Hallo Paul,
AntwortenLöschenich lese echt gerne deine Texte. Ehrlich, mitreißend und Augen öffnend auch für mich als Betroffenen. Viel zu oft vergisst man seinen Partner. Wie ging es denn weiter? Gibt es den Job noch? Wie lief die Therapie? Und wie hast du dich mit der Entfernung gefühlt?
LG
Herr B.
Hallo Herr B.,
AntwortenLöschenich finde es toll, dass du dir die Mühe machst, mir zu schreiben. Dein Lob freut mich sehr.
Ja, wie ging es weiter? Wie du aus diesem Posttitel entnehmen kannst gab es noch ein paar andere Entscheidungen zu treffen. Bis zu Paulas Abreise verging die Zeit so schnell, dass ich die geplanten Folgeposts nicht hingekriegt habe. Denn: Paula war ja fünf Wochen in Therapie/Kur. Fünf Wochen, in denen ich meinen Job schaukeln, die Kinder betüddeln und den Haushalt schmeissen musste. (Was ich gerne getan habe. Und es hat echt Spaß gemacht!) Abends allerdings war ich so platt, dass ich den Kopf für Blogposts nicht frei hatte. Ich hoffe und denke, das ist nachvollziehbar. Heute kommt Paula zurück ... Dann gibt es in den nächsten Tagen bestimmt wieder "Lesestoff". Dir eine gute Zeit und nochmals herzlichen Dank für deine netten Zeilen. LG PK
Hallo Paul!
AntwortenLöschenNun verfolge ich deinen Blog schon einige Zeit -
ich mag deine Texte und kann sie oft nur zu gut nachfühlen...
Im Prinzip bin ich in der selben Situation wie du - nur, dass in unserer Familie mein Freund an Depression erkrankt ist.
Wir denken auch oft über die Möglichkeit eines stationären Aufenthalts nach.
Ich bin schon sehr, sehr gespannt darauf wie es euch geht!
Ganz Liebe Grüße!
Sandra