Dienstag, 24. Januar 2017

Alles auf Anfang

Seit Tagen fliegt Paula mit „Deflektor“. Genau wie bei Star Trek soll dieser Schild vor Beschädigungen durch Partikel im Raum schützen. Einer dieser Partikel bin ich. Ich schwirre um Paula herum. Hin und wieder krache ich an das Mutterschiff. Doch das Deflektorsystem nimmt diese ganze – in Paulas Augen vermutlich feindliche – Energie auf.

Heute löchert mich Paula mit Fragen. Ich bin noch nicht ganz wach. Habe eben die Zahnbürste im Mund. „Wer berät uns eigentlich? Mit deutlicher Betonung auf „uns“. Zwischen cremegeschäumten Zähnen presse ich ein „hhmm?“ heraus und ziehe die Augenbraue hoch. „Wenn es um Steuerklassen geht“, fährt Paula fort, „und darum, ob wir zusammen veranlagt werden. Darauf habe ich nämlich keine Lust.“ Ich sehe Paula weiter fragend an, obwohl ich weiß, was sie meint. „Ich habe keine Lust, dass ich bzw. mein sauer verdientes Geld mit da reingezogen werden … mal vorausgesetzt, es kommt zur Gründung.“

BÄÄMMM – da ist es. Das große Thema. Derzeit. Bei Paula. Und selbstverständlich bei mir. Ich befasse mich intensiv mit einer möglichen beruflichen Selbständigkeit. Nicht, weil das mein großer Traum ist. (Wie sollte es? Ich bin jenseits der Fünfzig.) Nein, ich denke darüber nach, weil das derzeit die einzige Perspektive ist. In den letzten 18 Monaten habe ich 20, 25, 30 vielleicht 35 Bewerbungen geschrieben. Ich habe sie nicht gezählt. Das ist auch gleichgültig. Nur von einem einzigen Unternehmen wurde ich zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Abgesagt haben schließlich alle. Derweil dreht sich das Abwärtskarussell in der aktuellen Firma weiter. Ein Kollege und ich – wir sind die letzten Mohikaner. (Sozusagen Chingachgook und Uncas der Firma. Und Uncas stirbt ja bekanntermaßen auch noch …) Als ich vor acht Jahren dort anfing, waren es 30 Kollegen. Die Geschäftsleitung ist unfähig. Oder überfordert. Oder beides. Vielleicht soll ja auch gar nichts mehr unternommen werden, den Laden zu retten. Niemand weiß es. Dementsprechend ist die Stimmung. Der Druck und die Belastung sind übergroß. Vermutlich nicht nur ich frage mich jeden Morgen, warum ich eigentlich noch aufstehe, um ins Büro zu gehen. Das alles ist eine große Scheiße.

Paula und ich nehmen uns drei Stunden Zeit. Am Samstagnachmittag. Die Jungs sitzen in ihren Buden und daddeln. Später gehen sie vor die Tür. Sie bauen ein Iglu. Das macht auch diesen Halbstarken noch Laune. Ich erkläre Paula meinen Businessplan. Geschäftsidee, Positionierung, Abrechnungsmodell … soweit alles klar. Während ich den Liquiditätsplan darlege, erzeugt Paula ihren Deflektorschild. Sie macht zu. Und bringt die Abwehrgeschütze in Stellung: „Wie realistisch ist das?“ Diesen ersten Schuss kann ich noch abfangen: „Ich habe mit ein paar Bekannten, gesprochen, die auch als Freiberufler unterwegs sind, und mit der Beraterin von der Handelskammer: Die Hälfte der Regelarbeitszeit ist im Durchschnitt verkaufbar.“ Paulas Verteidigungssystem kommt auf Hochtouren: „Ich will nicht zurück in die Steinzeit meiner Existenz. Ich will in Urlaub gehen. Ich will nicht jeden Cent umdrehen, wenn ich mir was Schönes kaufen will. Ich will gemeinsame Zeit mir dir haben. Ich will nicht, dass du Tag und Nacht und am Wochenende arbeitest …“

Ich will, ich will, ich, ich, ich …

Das Trommelfeuer sprengt meinen Kopf. Ich hatte mir mehr Distanz gewünscht, hatte mehr Unterstützung von Paula erwartet. Sicher, wir reden über ein komplexes, buchstäblich existenzielles Thema. Mitnichten ist aber ein letztes Wort gesprochen oder eine Entscheidung getroffen. Zweifel habe ich selbst (genug), durchschreite regelmäßig Täler der Tränen. Meistens nachts. Aber ich habe auch Lust, an diesem Projekt zu arbeiten. Ich will Paula einbeziehen. Ich muss es tun. Selbstverständlich. Es ist nicht mein Projekt, es ist ein Familienprojekt. Die Mission ist gescheitert. Zumindest für den Moment. Ich bin stinksauer. Das Gespräch ist beendet.

Ich speie den grünlich weißen Schaum ins Waschbecken. „Ich weiß nicht, wer uns da beraten kann. Ich schlage vor wir machen eine Frageliste und gehen damit erst mal zu Jonas.“ (Das ist unser Steuerberater, der mir bei dem Businessplan geholfen hat.) Paula geht Betten machen. Sie hat heute frei. Ich habe frei. Ich schwirre um Paula herum. Versuche, versöhnlichen Kontakt zu ihr aufzunehmen. Wie in den letzten Tagen auch. Sie anzufassen muss ich erst gar nicht versuchen … undurchdringlich sirrt Paulas Deflektor vor sich hin.

Ich pralle ab. Wie ein Mikrometeorit in den unendlichen Weiten.

4 Kommentare:

  1. Das klingt mega anstrengend...
    Ich wünsche Euch eine gute Beratung, Entscheidung und einen guten Start.
    Und ich wünsche Dir viel Kraft um aus der Paula-Umlaufbahn wenigstens zeitweise auszubrechen und Dir selber etwas Gutes zu tun.
    Liebe Grüße von Seelenmomente (selber depressiv und mit einem Depressiven verheiratet)

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  2. Ich bin Paula. Ich sehe meinen Mann mit den gleichen Augen, habe die gleiche Abwehrhaltung und fühle mich völlig überfordert, wenn irgend etwas neues, fremdes auf mich zukommt. Ich möchte das nicht, will wieder so sein wie früher, als ich dachte, ich schaffe einfach alles (oder fast). Aber genau das hat mich jetzt an diesen Punkt gebracht und es wird noch sehr lange dauern, bis wieder Licht wird. Mein Mann ist herzensgut, lässt sich nicht unterkriegen und trotzdem verliert er manchmal die Geduld. Also, ich weiss, wie es dir geht.

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  3. Antworten
    1. Hallo "sma47070" - und alle anderen, die hier vorbeikommen: Paula und ich leben mittlerweile getrennt. Carine habe ich vor fünf Monaten das letzte Mal getroffen. Toll geht es mir damit nicht.

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