Carine wird den Absprung aus ihrer desolaten Ehe („Ich habe
jetzt aber keine Lust, dich in den Arm zu nehmen.“) nicht schaffen. Zu lange
schon ist sie mit diesem Mann zusammen bzw. verheiratet. Zu schön sind die
dolce vita und der soziale Status, den sie als Teil der Haute Volée unserer
Stadt genießen. Und zu groß ist die Angst, ihre Kinder im Stich zu lassen. (Was
sie de facto ja gar nicht würde tun müssen ... sag‘ ihr das bitte mal jemand!)
Über Jahrhunderte kreuzen sich in „World’s End“ Wege und
Schicksale der Familien Van Brunt und Van Wart. Wie von einem jenseitigen Puppenspieler
gelenkt, wiederholen sich dabei die Ereignisse: Im Jahre 1663 muss Jeremias Van
Brunt ein Fuß amputiert werden; 1968 verliert Walter Van Brunt ein Bein bei
einem Motorradunfall. 1990 habe ich Carine zum ersten Mal getroffen und mich in
sie verliebt. 2012 spricht sie mich auf dem Schulfest an. Und ich mag sie.
Wieder. Mehr als ich vermutlich sollte.
Ich treffe Carine häufig zum Kaffeetrinken. Auch am Donnerstag.
Am nächsten Dienstag hat sie ihre Operation. Schulterinstabilität links lautet
die Diagnose. Sie hätte das schon viel früher machen lassen müssen. Das weiß
sie. Doch erst nach der ach-was-wie-ich-denn-wievielten Ausrenkung im letzten
Jahr hat sie sich dazu durchgerungen. Die Spezialklinik liegt in rund 200 km
Entfernung. Carine fährt mit dem Zug alleine dorthin. Sie ist hibbelig,
ziemlich aufgekratzt, nicht wirklich für eine Plauderei zu haben. Als ich
wieder im Büro bin, organisiere ich eine Blumenstraußlieferung in die
Spezialklinik. Für den Mittwoch nach der OP. „Vielen, vielen Dank für die
Blumen. Da bin ich ja mal platt und freu‘ mich riesig“, steht in der SMS, die
sie mir schickt. (Ihr Gatte hat sie nicht mal angerufen. Doch das nur so am
Rande.)
Paula weint: „Pauli …“ – Pauli sagt sie nur, wenn sie mir
eröffnen will, dass die Kinder irgendetwas kaputt gemacht haben, was mir
gehört. Oder wenn etwas Schlimmes passiert ist. Heute ist etwas Schlimmes
passiert: „Pauli, komm‘ schnell. Ich habe hier vorne an der Ecke einen Unfall
gehabt.“ Heute ist Sonntag. Sie wollte nur eben zur Bäckerei radeln, um
Brötchen zu holen. „Ja, ich komme“, krächze ich an dem Kloß im Hals vorbei ins
Telefon.
Ich ziehe mir die verschwitzte Jeans von gestern an, springe in die
Flip-Flops, renne die Treppe hinauf zu den Kindern. Die hatte Paula schon
geweckt, bevor sie zum Bäcker aufbrach. „Leute, die Mama hatte einen Unfall.
Ich fahre da jetzt hin. Bitte macht euch keine Sorgen. Sie hat am Telefon
gesagt, es sei nicht so schlimm. Ich melde mich gleich.“ Ich verstehe nicht
mehr, was die Jungs hinter mir herrufen. Ich bin schon auf der Treppe, schnappe
mir das Handy, renne zum Auto und fahre los. Es sind nur dreihundert Meter.
Paula liegt auf dem Radweg. Ein Mann im blauen Hemd beugt sich über sie. (Ein
Notarzt, der zufällig vorbeikam, wie sich später herausstellt.) Ein anderer
steht etwas ratlos daneben, nestelt an seinem Handy herum. Eine Frau kniet
neben Paula auf dem Asphalt und hält ihre Hand. Die Decke unter Paulas Kopf
stammt aus ihrem Auto. Ich fahre auf die Garageneinfahrt, die direkt an der
Unfallstelle liegt. Ich springe aus dem Auto und laufe dorthin. Paula ist
käseweiß im Gesicht.
Ich knie mich hin, nehme Paulas andere Hand in meine. „Was
ist passiert?“, frage ich. „… um die Kurve … Mann entgegen … musste bremsen …
abgestiegen über Lenker …“ wispert Paula bruchstückhaft. Ich wende mich dem
Notarzt im blauen Hemd zu. „Sie ist auf die Seite gestürzt“, sagt er …
… „die linke Schulter ist kaputt.“
Das war vor vier Stunden. Wir hatten den Krankenwagen
gerufen, weil Verdacht auf Rippenbruch besteht. Ich muss an T.C. Boyle denken. Während ich diesen Post
schreibe, warte ich auf den Anruf aus der Klinik.
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