Wir sitzen beim Frühstück. Kaffeeduft füllt den Raum. Der
Kleine hat Brötchen geholt, die Sonne wirft einen goldenen Lichtkegel auf das Parkett.
Der perfekte Start in einen schönen Familiensamstag. Paula starrt auf das Telefon.
Sie zögert, die Gespräch-Annehmen-Taste zu drücken. Wir „Männer“ starren Paula
an. Es ist jedes Mal dasselbe. Jedes Mal, wenn jemand aus der Klinik anruft.
Das erneute Läuten klingt wie der Zahnbohrer in „Der Marathonmann“.
Kennten die Kinder den Film, würden sie das auch so hören. Das sehe ich ihren
Gesichtern an. „Mama, nimm‘ nicht ab“, sagt der Große, „lass es sein!“ „Das
entscheide ich immer noch selbst“, schnauzt Paula. Sie ist nervös. Ich verstehe
den Jungen. Wie oft haben wir darüber gesprochen – eben Anrufe aus der Klinik zu
ignorieren. Oder Paula gar zu verleugnen. Denn es ist immer dasselbe: Sie
werden Paula fragen, ob sie heute einen Dienst übernehmen kann. Weil mal wieder
jemand krank ist. Weil die Pflegedienstleitung mal wieder die Urlaubsplanung
vergeigt hat. Weil die Schülerinnen gerade ihren Schulblock haben. Letztendlich
weil die Spar- und Personalpolitik gnadenlos ist. Deshalb rufen sie aus der
Klinik an.
Mir steigt die Galle hoch, die Kinder rutschen von einer
Backe auf die andere. Noch einmal bohrt sich das Läuten ins Gehör. Paula meldet
sich, geht ins Arbeitszimmer. Vielleicht, um Ruhe zu haben für das Telefonat.
Vielleicht, damit wir nicht mitbekommen, was gesprochen wird. Oder vielleicht,
damit Paula unsere fragenden, fordernden Blicke nicht aushalten muss.
Es ist immer dasselbe: Paula wird zusagen, den Dienst zu
übernehmen. Weil sie keiner Kollegin zumuten möchte, eine Doppelschicht fahren zu
müssen. Und weil die Patienten versorgt werden müssen. Selbstverständlich. Aber
Paula hat mehr als 1.000 Überstunden angehäuft. Mit einer 50-%-Stelle! Paula
wird sich mit versteinerter Miene an den Tisch setzen, kaum mehr ein Wort
sagen, kaum etwas essen. Und sie wird den Kaffee kalt werden lassen. Die Kinder
werden schweigend noch Nutella-Brötchen essen. Mir ist der Appetit längst vergangen.
Ich werde eine Bemerkung über die Klinikleitung machen. Und eine darüber, dass
man denen gegenüber Zeichen setzen sollte. Eine weitere darüber, was
sich Paula denn noch alles zumuten möchte. Und eine letzte vielleicht über
Paulas Prioritäten. Das reißt die Stimmung richtig nach unten. Der
Samstag ist sowieso im Eimer.
Heute habe ich Post bekommen. Von meinem Chef. Persönlich
von ihm übergeben. Mit ein paar gefälligen Worten. Die beiden Briefe habe ich
auf den Nachttisch gelegt. Ich liege im Bett und warte auf Paula. Als sie sich
neben mir in ihren Kissen und Decken arrangiert, reiche ich ihr die Chef-Post
hinüber: „Heute gab’s noch zwei kleine Überraschungen.“ Paula liest, dass ich
rückwirkend zum Monatsbeginn befördert wurde. Ich darf mich nun „Senior“
nennen. Dafür gibt es 8 % mehr Geld. Immerhin. Außerdem – das steht in dem
zweiten Brief – bekomme ich einen Spot Bonus. Dafür, dass ich mit meinem Team
dieses Monsterprojekt erfolgreich und termingerecht auf die Beine gestellt habe.
„Ach Gott, mit 'Herzblut' hat es dein Chef aber“, kommentiert Paula in
eigenartigem Ton. „Herzblut“ kommt in den beiden Briefen mindestens vier Mal
vor. Es ist eines seiner Lieblingsworte und steht auch in unseren
Unternehmensgrundsätzen. Paula legt die Briefe weg, wir knipsen die Lampen aus.
Paula kriecht recht zielstrebig unter meine Decke. Ihre
Hände sind plötzlich überall, sie zieht mich aus. Dann sich selbst. Hals über
Kopf ist sie über mir. Intensiv und heftig schlafen wir miteinander. Paula
fällt auf das Laken zurück. Sie weint. Und das nicht vor Glück. Das kann ich
hören. Meine Gedanken fahren Achterbahn. Ich frage: „Was ist denn?“. Paula
gluckst und schluchzt noch ein paar Mal, bevor sie wütend antwortet: „Für
deinen Spot Bonus müsste ich eine Woche lang extra arbeiten. Ist das nicht
ungerecht? Ich reiße mir seit 25 Jahren den Arsch auf in dieser scheiß Klinik.
Und was kriege ich dafür? Nur Stress und Ärger, Weicheierkollegen, die ständig
krank sind, unfähige Vorgesetzte. Und die Überstunden kann ich im Leben nicht
abfeiern.“ … Pause. Schluchzen … „Ich möchte auch mal Anerkennung für meine
Leistung bekommen.“
„Und für mein Herzblut.“
Deine Frau ist in ihrer Opferrolle gefangen - was typisch für Depressive ist. Diese scheinbare Auswegslosigkeit, die Selbstaufopferung, wobei es nie gebührende Anerkennung gibt - das ist ein Verhaltensmuster, das sie lernen muss zu durchbrechen. Solange Du ihr jedoch in bester Co-Abhängigen-Manier beistehst, wird sich nichts ändern. Und das ist nicht böse gemeint, sondern einfach die in der Praxis täglich erlebte Realität. Ich bin Psychotherapeut und arbeite in einer Klinik. Ich weiss, wovon ich also schreibe.
AntwortenLöschenIch wünsche Dir Kraft - und den Kindern erst Recht. Paula wünsche ich weniger Egoismus und mehr Selbstliebe.
Grüsse
Jens