Dienstag, 24. Januar 2017

Alles auf Anfang

Seit Tagen fliegt Paula mit „Deflektor“. Genau wie bei Star Trek soll dieser Schild vor Beschädigungen durch Partikel im Raum schützen. Einer dieser Partikel bin ich. Ich schwirre um Paula herum. Hin und wieder krache ich an das Mutterschiff. Doch das Deflektorsystem nimmt diese ganze – in Paulas Augen vermutlich feindliche – Energie auf.

Heute löchert mich Paula mit Fragen. Ich bin noch nicht ganz wach. Habe eben die Zahnbürste im Mund. „Wer berät uns eigentlich? Mit deutlicher Betonung auf „uns“. Zwischen cremegeschäumten Zähnen presse ich ein „hhmm?“ heraus und ziehe die Augenbraue hoch. „Wenn es um Steuerklassen geht“, fährt Paula fort, „und darum, ob wir zusammen veranlagt werden. Darauf habe ich nämlich keine Lust.“ Ich sehe Paula weiter fragend an, obwohl ich weiß, was sie meint. „Ich habe keine Lust, dass ich bzw. mein sauer verdientes Geld mit da reingezogen werden … mal vorausgesetzt, es kommt zur Gründung.“

BÄÄMMM – da ist es. Das große Thema. Derzeit. Bei Paula. Und selbstverständlich bei mir. Ich befasse mich intensiv mit einer möglichen beruflichen Selbständigkeit. Nicht, weil das mein großer Traum ist. (Wie sollte es? Ich bin jenseits der Fünfzig.) Nein, ich denke darüber nach, weil das derzeit die einzige Perspektive ist. In den letzten 18 Monaten habe ich 20, 25, 30 vielleicht 35 Bewerbungen geschrieben. Ich habe sie nicht gezählt. Das ist auch gleichgültig. Nur von einem einzigen Unternehmen wurde ich zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Abgesagt haben schließlich alle. Derweil dreht sich das Abwärtskarussell in der aktuellen Firma weiter. Ein Kollege und ich – wir sind die letzten Mohikaner. (Sozusagen Chingachgook und Uncas der Firma. Und Uncas stirbt ja bekanntermaßen auch noch …) Als ich vor acht Jahren dort anfing, waren es 30 Kollegen. Die Geschäftsleitung ist unfähig. Oder überfordert. Oder beides. Vielleicht soll ja auch gar nichts mehr unternommen werden, den Laden zu retten. Niemand weiß es. Dementsprechend ist die Stimmung. Der Druck und die Belastung sind übergroß. Vermutlich nicht nur ich frage mich jeden Morgen, warum ich eigentlich noch aufstehe, um ins Büro zu gehen. Das alles ist eine große Scheiße.

Paula und ich nehmen uns drei Stunden Zeit. Am Samstagnachmittag. Die Jungs sitzen in ihren Buden und daddeln. Später gehen sie vor die Tür. Sie bauen ein Iglu. Das macht auch diesen Halbstarken noch Laune. Ich erkläre Paula meinen Businessplan. Geschäftsidee, Positionierung, Abrechnungsmodell … soweit alles klar. Während ich den Liquiditätsplan darlege, erzeugt Paula ihren Deflektorschild. Sie macht zu. Und bringt die Abwehrgeschütze in Stellung: „Wie realistisch ist das?“ Diesen ersten Schuss kann ich noch abfangen: „Ich habe mit ein paar Bekannten, gesprochen, die auch als Freiberufler unterwegs sind, und mit der Beraterin von der Handelskammer: Die Hälfte der Regelarbeitszeit ist im Durchschnitt verkaufbar.“ Paulas Verteidigungssystem kommt auf Hochtouren: „Ich will nicht zurück in die Steinzeit meiner Existenz. Ich will in Urlaub gehen. Ich will nicht jeden Cent umdrehen, wenn ich mir was Schönes kaufen will. Ich will gemeinsame Zeit mir dir haben. Ich will nicht, dass du Tag und Nacht und am Wochenende arbeitest …“

Ich will, ich will, ich, ich, ich …

Das Trommelfeuer sprengt meinen Kopf. Ich hatte mir mehr Distanz gewünscht, hatte mehr Unterstützung von Paula erwartet. Sicher, wir reden über ein komplexes, buchstäblich existenzielles Thema. Mitnichten ist aber ein letztes Wort gesprochen oder eine Entscheidung getroffen. Zweifel habe ich selbst (genug), durchschreite regelmäßig Täler der Tränen. Meistens nachts. Aber ich habe auch Lust, an diesem Projekt zu arbeiten. Ich will Paula einbeziehen. Ich muss es tun. Selbstverständlich. Es ist nicht mein Projekt, es ist ein Familienprojekt. Die Mission ist gescheitert. Zumindest für den Moment. Ich bin stinksauer. Das Gespräch ist beendet.

Ich speie den grünlich weißen Schaum ins Waschbecken. „Ich weiß nicht, wer uns da beraten kann. Ich schlage vor wir machen eine Frageliste und gehen damit erst mal zu Jonas.“ (Das ist unser Steuerberater, der mir bei dem Businessplan geholfen hat.) Paula geht Betten machen. Sie hat heute frei. Ich habe frei. Ich schwirre um Paula herum. Versuche, versöhnlichen Kontakt zu ihr aufzunehmen. Wie in den letzten Tagen auch. Sie anzufassen muss ich erst gar nicht versuchen … undurchdringlich sirrt Paulas Deflektor vor sich hin.

Ich pralle ab. Wie ein Mikrometeorit in den unendlichen Weiten.

Sonntag, 4. Oktober 2015

Corrida (Der neue Job Teil 1)

Es passiert zum eintausendsten Mal. Es geht mir seit genau eintausend Malen ganz gewaltig auf den Sack. Ich frage meine Mutter wie es ihr geht, wie es meinen Eltern geht.

Meine Mutter leidet seit ich denken kann an Colitis ulcerosa. Jetzt ist sie Mitte Siebzig und hat in den letzten fünf Jahren mehr abgebaut als in den zwanzig Jahren davor. Vor allem körperlich. Aussichten auf Besserung gibt es nicht. Das ist mir selbstverständlich alles andere als egal.

Meine Eltern leiden ebenso lange an einer ebenso chronischen Beziehungskrise. In den letzten Jahren ist die Hoffnung auf Besserung einer dramatischen Resignation gewichen. Vor allem bei meiner Mutter. Das ist mir auch nicht egal. Es macht mich wütend. Weil meine Eltern zu träge, zu unentschlossen, zu feige oder – sorry – zu blöd waren, rechtzeitig die Reißleine zu ziehen. (Gut, vielleicht hatten sie aufgrund der Umstände auch keine Möglichkeit dazu. Was ich in meinem tiefsten Inneren aber bezweifle.)

Also frage ich meine Mutter wie es ihr geht, wie es meinen Eltern geht.

In Tonfall einer Nachrichtensprecherin sagt meine Mutter: „Es ist ja immer etwas.“ Dieser Tonfall ist Fassade. Die gestelzte Pointierung der jeweils letzten Wortsilbe verrät das. Zumindest mir. „Kannst du das konkretisieren?“, setze ich nach. Meine Mutter antwortet: „Ach lassen wir das, es ist doch immer dasselbe. Was machen die Jungs?“ Das ist es! GENAU DAS IST ES! Wer ‚A‘ sagt, muss auch ‚B‘ sagen! Warum – verdammte Scheiße nochmal – macht sie das? Warum rammt sie die emotionale Banderilla ein, um die Corrida dann nicht zu Ende zu bringen? Was will sie erreichen? Das macht so null Sinn. Ich habe meine Mutter schon vielfach gebeten, einfach nichts mehr anzudeuten. Um mir die Spekulationen über den Zustand ihrer Gesundheit bzw. der Ehe zu ersparen. Ich habe sogar versucht, nicht mehr zu fragen. Dann aber bräuchte ich gar nicht erst anzurufen. Pah, wie mir das auf den Sack geht!

Paula knipst das Licht aus. Schon seit Stunden glibbert zähflüssig ihre Stimmung durch die Wohnung. Sie atmet tief ein. So als wolle sie mir gleich beichten, dass sie meine Lieblingsschallplatte zertrümmert hat. Sie schiebt sich an mich heran und legt den Kopf auf meine Schulter. „Was ist?“, frage ich. Die Corrida ist eröffnet. Mit einem weiteren Stoßseufzer setzt Paula zielsicher die Banderilla: „Ach, ich fühle mich so …“


Die Widerhaken des Schweigens schmerzen in meinem Fleisch. Wie der verwundete Stier warte ich mit gesenktem Kopf auf den nächsten Stich in den Nacken. Aber nichts da. Nur Stille. Tiefes Atmen. Starres Verharren. Ich mache die Augen auf. Das Mondlicht und die Blätter der Bäume vor dem Haus werfen irrlichternde Schatten auf das Moskitonetz. Unheimlich. Ich mache die Augen wieder zu. Nun irrlichtern meine Gedanken:

Noch nicht mal mehr vier Wochen, bis Paula ihren Job wechselt. Nach 26 Jahren in der Klinik, Abschied nehmen von liebgewonnenen Kollegen, das Gefühl, Freundinnen in dem Chaos der Station alleine zurückzulassen, die Ungewissheit, wie es am neuen Arbeitsplatz wird, die Unsicherheit einer Probezeit oder vielleicht die darüber, dass wir uns zuhause neu sortieren müssen so ganz ohne Schichtdienst. Die Aufregung, dass nächste Wochen „ihre Mädels“ zu Besuch kommen, die sie während der Kur vor anderthalb Jahren kennengelernt hat. Paula spürt, dass ich mich immer wieder mit jemandem treffe. Sie ahnt etwas. Weil ich in letzter Zeit häufig zu Konzerten gehe, ohne sie zu fragen, ob sie mitgeht. Sie weiß sogar, dass es Carine ist. Beate aus unserem Ex-Tanzzirkel hat es ihr zugeraunt; sie kennt Carine. Paulas Mutter geht es im Pflegeheim noch schlechter. Jakob hat an der neuen Ausbildungsstelle Mist gebaut. Lilith hat sich von Arnold getrennt. Bei den beiden herrscht schon seit Wochen dicke Luft.

Spekulationen. Gehen mir auf den Sack.
Ich denke an meine Mutter und drehe mich um.


Samstag, 1. August 2015

Training

Woran man Modewörter erkennt?“, fragt Kurt Tucholsky. Und antwortet gleich selbst: „Man erkennt sie nicht, man muss das fühlen.“ Mir fallen „Heuschrecken“ oder „Wutbürger“ ein. Und „Helikoptereltern“, die ihrem Nachwuchs jeden Wunsch erfüllen, sich eigentümlich konsequent für sein Wohlergehen einsetzen und sich mit ihm verbünden.

„Menschenskind“, tippe ich in eine SMS, „nu isses soweit: Frau Napf wird 29! Da gratuliere ich allerherzlichst, wünsche Glück, Gesundheit und Geduld. Außerdem freue ich mich auf ein gemeinsames Gläschen.“ Marlies – das ist Frau Napf – reagiert sofort. Nicht etwa, weil es ihr schmeichelt, dass ich ihr bereits zum 14. Mal zum 29. gratuliere. Nein, wir waren Kollegen. Vor vielen Jahren schon. Verstehen uns bis heute gut. Wir verabreden uns für Mittwoch. Auf ein Gläschen. Oder zwei.

Ich schreibe noch eine SMS. An Paula. Um sicherzugehen, dass dieser Mittwochabend klargeht. Am Dienstag klären wir, dass ich nach der Arbeit zum Abendessen nach Hause komme und mich mit Marlies erst um halb neun treffe.

Ich safte, bin eben nach Hause gekommen. Die zehn Kilometer auf dem Rad vom Büro sind bei 25° C ziemlich schweißtreibend. (Ich habe weder ein Pedelec, noch fahre ich im Rentertempo.) Während ich mir die Radhandschuhe ausziehe, kommt Paula aus der Küche:

„Du …?“, sagt sie. Um genau zu sein, sagt sie: „Duhuuu?“ – zwei Silben mit Signalwirkung: Achtung, jetzt kommt was. „Wolltest du nachher mit dem Auto in die Stadt fahren?“, fragt sie.

„Äahh …“, für ein paar Sekunden zögere ich. Spiele die Vereinbarungen für heute Abend im Kopf durch. Ich finde nichts, was mir falsch vorkommt. „Das haben wir doch so besprochen“, sage ich mit ehrlicher Überzeugung.

„Der Jakob (unser Ältester) ist im Training“, sagt Paula, „wenn du direkt um acht am Sportplatz bist und ihn abholst, kommst du vielleicht nur zehn Minuten zu spät.“

Mein Wutaggregat vibriert:
„Wieso ist heute Training? Am letzten Schultag. Du hast selbst gesagt, letzte Woche sei das letzte Mal gewesen.“ Paula streitet das ab.

Die Vibrationen in meinem vegetativen Nervensystem werden stärker:
„Warum hast du das denn gestern Abend nicht gesagt?“, frage ich.

Sie hätte es nicht gewusst.
„Das mit dem Training“ hätte sich erst heute ergeben, behauptet Paula.

Mein Tonfall wird giftig:
„Verdammte Hacke, warum rufst du mich nicht an, um das zu klären? Das kostet dich zwei Minuten deines Lebens. Eine SMS geht noch schneller. Wo ist das Problem?“

Wir hätten nicht besprochen, dass ich das Auto nehme wollte, hält Paula mir nun vor.

„Herrgott nochmal“, belle ich, „selbst wenn dem so wäre: Warum hast du mich dann nicht angerufen, um es zu besprechen? Wenn etwas unklar ist, muss man es klären.“

Das sei doch nicht schlimm; es wären doch nur zehn Minuten, die ich zu spät käme, lautet Paulas nächste These.

Ich raste aus:
„Das, meine Liebe, das entscheide ich immer noch für mich selbst, ob es schlimm ist, wenn ich zu spät komme. Das ist mal wieder typisch, dass hier Pläne gemacht werden über meinen Kopf hinweg. Wunderbar, soll der Alte doch bleiben, wo er will. Alles, alles mal wieder zu meinem Nachteil.“ Ich poltere die Treppe nach oben ins Bad, reiße den Duschvorhang zur Seite und den Warmwasserhebel nach oben. Dann postiere ich mich am Treppengeländer: „Aber bitte, ich kriege das schon irgendwie hin. Fahre ich eben mit dem Rad. Kannst ihn dann selbst abholen“, knalle ich im Kasernenton raus.

Es werden drei Gläschen, die ich mit Marlies trinke. Es ist deutlich nach Mitternacht, als ich heute zum vierten Mal auf der Strecke zwischen Stadt und Zuhause bin. Ich spüre wie mein Kopf dröhnt, ich spüre, wie mein Allerwertester auf das harte Leder des Sattels drückt, ich spüre, wie meine Oberschenkel brennen.

Kurt Tucholsky war ein kluger Kopf.


Sonntag, 26. Juli 2015

Bis zur Schmerzgrenze

Volker ist ein Arschloch. Er ist sogar der Prototyp eines Arschlochs. Schlimmer noch: Er ist von Grund auf bösartig. Kurzum, die Inkarnation eines Feindbildes. Meines Feindbildes. Er ist der Finanzchef unserer Firmengruppe. Von dort hat er den Auftrag bekommen, die Bilanzfälschung aufzuklären, die Anfang des Jahres aufgedeckt wurde. Dabei gibt er sich redlich Mühe. Wobei er seiner Niedertracht und damit sich treu bleibt. Immer wieder versucht er, auch mich aufs Glatteis zu führen. Als Zahlenmensch ist er allerdings ein „Alpha Kevin“ der Rhetorik. Und damit bei mir an den falschen geraten. Ich habe nichts zu verbergen. Dennoch muss ich ihn immer mal wieder daran erinnern, dass ich keine Antworten geben werde, die mich selbst in Misskredit bringen könnten. Er rechtfertigt sein Vorgehen mit dem Anspruch des Unternehmens, jede noch so kleine Unregelmäßigkeit zu klären. „Zero Tolerance“ nennt er das dann. Das ist meist der Moment, in dem ich meine rechte Augenbraue hochziehe – wobei ich vermutlich nur halb so arglistig wirke, wie der liebe Volker – und mich übergeben möchte.

Paula hat monströse Kopfschmerzen. Nicht das dumpfe übliche Dröhnen einer wetterbedingten Migräne. Nein, sie krümmt sich unter stichartigen Schmerzattacken. Über Nacht hat sie bereits 1.200 mg Schmerzmittel eingenommen. So geht es nicht weiter. Ich werfe das Leergut in die Transportkiste, wir fahren in die Klinik. Paula checkt in der Notaufnahme ein. Ich gehe einkaufen. Das wirkt vielleicht ein bisschen herzlos. Aber: Erstens sind es nur zwei Tage bis Heiligabend; die Weihnachtseinkäufe müssen gemacht werden. Schließlich kommt Lilith über die Feiertage zu Besuch. Zweitens dauert es meist Stunden, bis alle Untersuchungen in der Notaufnahme erledigt sind. So auch diesmal. Paula ruft mich nicht an wie verabredet und so fahre ich die Einkäufe sogar erstmal nach Hause. Als Paula sich endlich meldet und ich neben ihr auf dem Krankenbett sitze, dauert es noch eine Stunde, bis alle Formalitäten erledigt sind und ein Arzt ein letztes Statement zur Diagnose abgibt: „Nichts Spezifisches.“ Mit Paulas Krankschreibung und einem Rezept für noch mehr, noch höherdosierte Schmerzmittel in der Tasche fahren wir nach Hause.

Es hilft alles nichts: Paula schleppt sich – von den Medikamenten reichlich abgeschossen und immer noch mit wildesten Schmerzen – durch die nächsten Tage. Eigentlich verbringt sie die meiste Zeit im Bett. Wenn sie für ein paar wenige Stunde aufsteht, stöhnt sie unter den anhaltenden Stichen im Kopf regelmäßig auf. Die Stimmung ist bei uns allen auf dem Nullpunkt. Weihnachten können wir abhaken. Wir können nichts unternehmen. Alles, was wir uns vorgenommen haben, bleibt liegen. Aufgrund der hohen Medikamentendosen muss Paula jeden Tag zum Hausarzt, um die Blutwerte prüfen zu lassen.

Am 28. Dezember sind die Schmerzen noch schlimmer. Der Hausarzt weiß sich nicht mehr zu helfen, empfiehlt Paula, bei einem Dermatologen vorstellig zu werden. Lilith fährt mit Paula in die Klinik. Nur eineinhalb Stunden später sind sie zurück. Der Verdacht des Hausarztes hat sich bestätigt: Herpes Zoster. Paula bekommt nun (zusätzlich) andere Medikamente. Das hilft. Aber Paula ist nun (wie) im Drogenrausch. Die miese Stimmung bleibt. Die Jungs, Lilith und ich müssen die Tage neu und anders organisieren. Als Lilith wieder weg ist, bleibt das meiste zwangsläufig an mir hängen. Von dem Urlaub, den ich genommen habe, habe ich nicht viel.

Heute bin ich mit ein paar Kollegen verabredet, die Einkäufe will ich vorher erledigen. Deshalb habe ich mit Paula gestern geklärt, wann sie zu ihrem Termin muss: „Ich gehe um 11:00 Uhr“, hat sie gesagt. Jetzt ist es 10:00 Uhr, ich komme die Treppe herunter und erinnere an die Vereinbarung: „Ich gehe dann eben mal einkaufen, das schaffe ich ja locker in einer Stunde.“ Paula reißt die Augen auf, beugt sich leicht nach vorne. Sie sieht jetzt aus wie eine Hyäne in Angriffsstellung. Wie ein Hyäne kläfft sie auch los – hart und grob: „Sag‘ mal! Hast du mir nicht zugehört? Ich brauche das Auto. Ich muss um 11:00 h bei meinem Termin sein!“ Ich versuche, den Unterschied zwischen „um 11:00 Uhr gehen“ und „um 11:00 Uhr dort sein“ zu erläutern. Lautstark und giftig führen wir den ebenso sinnlosen wie stets wiederkehrenden Streit über den Wortlaut des Gesagten. Das endet auch diesmal in Grundsätzlichem: „Kannst du ein einziges Mal …“, ballert mir Paula entgegen, „… auch nur ein einziges beschissenes Mal in diesem Leben auf mich Rücksicht nehmen?“

Mir stockt der Atem. Weniger wegen Weihnachten; sie kann ja nichts dafür. Aber bestimmt wegen all der Jahre mit ihrer Depression. „Zero Tolerance“. Paula sieht das selbstverständlich genau andersherum als ich. Dennoch oder gerade deshalb ist mir gerade zum Kotzen.


Sonntag, 19. Juli 2015

Die Duplizität der Ereignisse – eine Randnotiz

T. C. Boyle ist einer meiner Lieblingsschriftsteller. Seine Geschichten sind so absonderlich wie sein zweiter Vorname Coraghessan. „World’s End“ (von 1987) ist eines meiner Lieblingsbücher. Nicht nur, weil es das erste seiner Bücher war, das ich je gelesen habe. Manchmal möchte ich dieses Buch verschenken. An Carine. In morgendämmrigen Momenten, in denen die Vernunft über Schwanz und Herz siegt. Den Momenten, in denen mir sonnenklar ist, dass es keinen Sinn macht, Carine weiter zu bezirzen.

Carine wird den Absprung aus ihrer desolaten Ehe („Ich habe jetzt aber keine Lust, dich in den Arm zu nehmen.“) nicht schaffen. Zu lange schon ist sie mit diesem Mann zusammen bzw. verheiratet. Zu schön sind die dolce vita und der soziale Status, den sie als Teil der Haute Volée unserer Stadt genießen. Und zu groß ist die Angst, ihre Kinder im Stich zu lassen. (Was sie de facto ja gar nicht würde tun müssen ... sag‘ ihr das bitte mal jemand!)

Über Jahrhunderte kreuzen sich in „World’s End“ Wege und Schicksale der Familien Van Brunt und Van Wart. Wie von einem jenseitigen Puppenspieler gelenkt, wiederholen sich dabei die Ereignisse: Im Jahre 1663 muss Jeremias Van Brunt ein Fuß amputiert werden; 1968 verliert Walter Van Brunt ein Bein bei einem Motorradunfall. 1990 habe ich Carine zum ersten Mal getroffen und mich in sie verliebt. 2012 spricht sie mich auf dem Schulfest an. Und ich mag sie. Wieder. Mehr als ich vermutlich sollte.

Ich treffe Carine häufig zum Kaffeetrinken. Auch am Donnerstag. Am nächsten Dienstag hat sie ihre Operation. Schulterinstabilität links lautet die Diagnose. Sie hätte das schon viel früher machen lassen müssen. Das weiß sie. Doch erst nach der ach-was-wie-ich-denn-wievielten Ausrenkung im letzten Jahr hat sie sich dazu durchgerungen. Die Spezialklinik liegt in rund 200 km Entfernung. Carine fährt mit dem Zug alleine dorthin. Sie ist hibbelig, ziemlich aufgekratzt, nicht wirklich für eine Plauderei zu haben. Als ich wieder im Büro bin, organisiere ich eine Blumenstraußlieferung in die Spezialklinik. Für den Mittwoch nach der OP. „Vielen, vielen Dank für die Blumen. Da bin ich ja mal platt und freu‘ mich riesig“, steht in der SMS, die sie mir schickt. (Ihr Gatte hat sie nicht mal angerufen. Doch das nur so am Rande.)

Paula weint: „Pauli …“ – Pauli sagt sie nur, wenn sie mir eröffnen will, dass die Kinder irgendetwas kaputt gemacht haben, was mir gehört. Oder wenn etwas Schlimmes passiert ist. Heute ist etwas Schlimmes passiert: „Pauli, komm‘ schnell. Ich habe hier vorne an der Ecke einen Unfall gehabt.“ Heute ist Sonntag. Sie wollte nur eben zur Bäckerei radeln, um Brötchen zu holen. „Ja, ich komme“, krächze ich an dem Kloß im Hals vorbei ins Telefon.

Ich ziehe mir die verschwitzte Jeans von gestern an, springe in die Flip-Flops, renne die Treppe hinauf zu den Kindern. Die hatte Paula schon geweckt, bevor sie zum Bäcker aufbrach. „Leute, die Mama hatte einen Unfall. Ich fahre da jetzt hin. Bitte macht euch keine Sorgen. Sie hat am Telefon gesagt, es sei nicht so schlimm. Ich melde mich gleich.“ Ich verstehe nicht mehr, was die Jungs hinter mir herrufen. Ich bin schon auf der Treppe, schnappe mir das Handy, renne zum Auto und fahre los. Es sind nur dreihundert Meter. Paula liegt auf dem Radweg. Ein Mann im blauen Hemd beugt sich über sie. (Ein Notarzt, der zufällig vorbeikam, wie sich später herausstellt.) Ein anderer steht etwas ratlos daneben, nestelt an seinem Handy herum. Eine Frau kniet neben Paula auf dem Asphalt und hält ihre Hand. Die Decke unter Paulas Kopf stammt aus ihrem Auto. Ich fahre auf die Garageneinfahrt, die direkt an der Unfallstelle liegt. Ich springe aus dem Auto und laufe dorthin. Paula ist käseweiß im Gesicht.

Ich knie mich hin, nehme Paulas andere Hand in meine. „Was ist passiert?“, frage ich. „… um die Kurve … Mann entgegen … musste bremsen … abgestiegen über Lenker …“ wispert Paula bruchstückhaft. Ich wende mich dem Notarzt im blauen Hemd zu. „Sie ist auf die Seite gestürzt“, sagt er …

… „die linke Schulter ist kaputt.“

Das war vor vier Stunden. Wir hatten den Krankenwagen gerufen, weil Verdacht auf Rippenbruch besteht. Ich muss an T.C. Boyle denken. Während ich diesen Post schreibe, warte ich auf den Anruf aus der Klinik.