Dienstag, 17. September 2013

Entscheidungen 1

Es ist soweit. Endlich. Gestern haben wir die Nachricht bekommen: Paula kann die stationäre Therapie machen. In einer Klinik, die ziemlich genau 600 Kilometer von hier entfernt ist. Das ist nicht die Klinik, die Paula und ihre ehemalige Therapeutin, Frau Hämmerle, ausgesucht hatten. Die ist nämlich – so sehen wir es jetzt – sozusagen um die Ecke: knapp 60 Kilometer von hier. Der Termin steht auch fest: Paula soll am 11. des nächsten Monats anreisen. Das ist in zwölf Tagen. Schluck.

Erst gegen Morgen – müde von der Urlaubsheimfahrt habe ich tief geschlafen – geistern die Gedanken über diese „medizinische Rehabilitationsmaßnahme“, den Ort und den Zeitpunkt durch meinen Kopf. Paula liegt neben mir. Hellwach. Selbstverständlich. Ob sie überhaupt ein Auge zugemacht hat? Sie sieht mitgenommen aus. Die Urlaubserholung ist verpufft. Über Nacht.

Viel zu früh stehen wir auf. Es ist Sonntag. Gemeinsam machen wir Frühstück. In aller Ruhe. Oder besser: Ganz langsam. Ohne ein Wort. Als die Kinder sich an den Tisch setzen, machen wir „gute Miene zum bösen Spiel“. Das Spiel ist nicht böse – im Gegenteil. Eigentlich. Böse ist, was das Spiel mit Paula macht: Sie isst fast nichts, am Kaffee nippt sie nur. Sie wirkt grau. Abwesend. Alt.

Die Kinder sind wieder nach oben gespurtet. Sie hoffen, sie müssen den Frühstückstisch nicht abräumen. Heute haben sie Glück. Paula und mir ist der Tisch im Moment nämlich leidlich egal. Ich sehe zu Paula hinüber. Sie zu mir. Als sich unsere Blicke treffen, fängt Paula an zu weinen. Leise zwar, aber hemmungslos. Ich nehme ihre Hände in meine. Halte sie fest. Paula beruhigt sich. Langsam. Nach einigen Minuten bringt sie ein paar Töne hervor: „Ich kann das nicht.“

Dieses „das“ klingt fast verächtlich. Oder resigniert. Auf jeden Fall abwertend. „Das“ ist doch gut. Es ist super. Es ist perfekt. Eigentlich. Ich sehe auf unsere Hände und frage leise: „Was kannst du nicht?“ Ich rechne mit Antworten wie „die Therapie machen“ oder „schon in zwölf Tagen anfangen“ oder „soweit von euch weg sein“. Paula aber sagt: „Das kann ich meinen Kollegen nicht antun. Nein, das geht nicht.“

Paulas „das“ ist ein anderes als mein „das“. Paulas geht weiter als meines. Ich stelle den Termin und den Ort in Frage. Wenn überhaupt. Paula stellt den gesamten Therapieaufenthalt in Frage. Weil ihr Kollegen-Team durch Einsparungsmaßnahmen so reduziert ist, dass schon ein einziger Krankheitsfall Personalnotstand auslöst. Weil sie viele ihrer Kollegen seit vielen Jahren kennt. Weil sie sie mag. Weil sie mit einigen sehr gut befreundet ist. Weil sie Angst hat, dass diese Freundschaften zerbrechen. Und weil sie Angst hat vor den Warum-und-wieso-Fragen.

Ich versuche Paula klarzumachen, dass das alles „Quatsch“ ist: Die realitätsfremde Sparpolitik ihres Arbeitsgebers kann nicht auf dem Rücken der Angestellten ausgetragen werden. Oder gar auf Kosten deren Gesundheit. Nach zwanzig Dienstjahren mit insgesamt vielleicht 30 Krankheitstagen ist eine – salopp gesagt – Auszeit völlig in Ordnung. Freunde, die sie deswegen fallen lassen, haben Paulas Freundschaft nicht verdient. (Auch meine nicht. Doch das nur am Rande. Für den Fall der Fälle.) Und Warum-und-wieso-Fragen muss sie nicht beantworten. Das weiß Paula als schweigeverpflichtete Klinikangestellte selbst am besten. „Dein Hemd ist dir doch näher als die Jacke“; ich schließe meinen Monolog.

Alle meine Worte helfen Paula nicht. Ihre Gedanken, ihre Gefühle rasen wie auf dem „Silverstar“ im Europa-Park mit fast 130 Sachen auf und ab. Und ähnlich wie in dieser Achterbahn reagieren Paulas Kopf und Bauch. Es dreht sich alles, die Wahrnehmung verschwimmt für einen Augenblick. Ich spüre ihre eiskalten Hände. Sie spricht nicht mehr. Für eine ganze Weile. Erst am Abend spricht sie am Telefon mit ihrer Kollegin und Freundin Tine. Sehr lange sogar. Als die Kinder schon im Bett sind, taut Paula auf: „Tine sagt genau das gleiche wie du: Die Arbeit, die Kollegen, das alles muss mir scheißegal sein.“

Sie lächelt ein bisschen dabei.


Samstag, 7. September 2013

Post

"Pauli“ – so nannte mich meine Mutter, als ich ein Kind war. (Bitte nicht weitersagen, ich habe das gehasst.) Wenn Sie mich „Paul“ nannte – das hörte ich schon an dieser überspitzen Betonung des „u“ – wusste ich: Jetzt wird es ernst. Oder unangenehm.

Wir sind gerade aus dem Urlaub gekommen. Die Post der letzten Woche stapelt sich vor der Wohnungstür. Die Nachbarn haben sie gesammelt. Paula öffnet die Tür, schiebt den Stapel beiseite. Damit ich mit den Reisetaschen rein kann. Die trage ich gleich nach oben. Die schmutzige Wäsche kommt direkt in den Wäschekorb. Als ich wieder nach unten komme, hat Paula die Post schon sortiert. Die Jahresabrechnung der Stadtwerke liegt obenauf. „Das mache ich jetzt nicht auf“, sagt Paula, „ich will mir nicht gleich die Laune verderben.“ Ich sage nur knapp „jow“, denn im letzten Jahr mussten wir 700 Euro nachzahlen.

Beim Abendessen lassen wir den Urlaub Revue passieren. Wie immer fragen wir die Kinder nach ihrem schönsten Urlaubserlebnis. Erwartungsgemäß ist das der Besuch bei der Tante und den Cousins selbst. Aber auch der Zoo und das Panorama von Yadegar Asisi kommen gut weg. Es ist ein harmonischer Abend. Ich spiele mit den Kindern noch eine Runde Trivial Pursuit. Paula kruschtelt in der Wohnung herum. Ich achte nicht weiter darauf.

„Paul“. Ich reagiere nicht. Vielleicht weil ich gerade die Frage beantworten soll, in welchem Land der Tag des 'Zahnziehers' gefeiert wird. „Paul“. Da ist es wieder. Dieses verhasst überspitzt betonte „u“. Es wird ernst. Oder unangenehm. Ich reagiere: „Was ist?“ „Kommst du mal bitte!“ Auch an diesem Ruf von Paula behagt mir die akzentuierte Betonung nicht. Ich werfe den Kindern ein Augenrollen zu und gehe ins Arbeitszimmer. Dort angekommen, schließe ich die Türe. Paulas Tonfall klingt nach Stadtwerken.

Paula sitzt am Schreibtisch. Sie hat ihr Gesicht in die Hände gestützt. Sie sieht mich an. Ihre Augen sind rötlich unterlaufen. Sie hat geweint. In aller Stille. Im Arbeitszimmer. Keine zwei Meter vom Trivial Pursuit entfernt. Ihre Laune ist buchstäblich augenscheinlich verdorben. Meine nun auch. Der Brief der Stadtwerke liegt ungeöffnet vor ihr auf dem Poststapel. Ein anderer Brief liegt vor ihr. Er sieht nicht weniger förmlich aus, als die Stromabrechnung. Allerdings ohne Tabelle. „Sie haben das genehmigt“, sagt Paula. Ich frage „Was?“ „Die Therapie“, sagt Paula. Wir schweigen.

Wir schweigen.

Wir schweigen.

„Was jetzt genau?“, frage ich nach einer Weile. „Die haben die Therapie genehmigt“, presst Paula knapp vor den wiederkehrenden Tränen heraus, „die Rentenversicherung hat mir eine stationäre Therapie genehmigt. Für fünf Wochen. Fünf Wochen. Paul.“ Ich freue mich. Wir lavieren seit fast einen halben Jahr an diesem Thema herum: Braucht Paula einen Klinikaufenthalt? Will sie das? Wie können wir das mit zwei schulpflichtigen Kindern organisieren? Wann? Zahlt die Krankenkasse eine Dorfhelferin? Bei wem stellt man wie, welchen Antrag? Welcher Psychiater kann den Antrag abzeichnen? Welche Klinik kommt in Frage? Wir hatten das alles geklärt. Und den Antrag gestellt. Die Psychiaterin hat für ihre Unterschrift sechs Wochen gebraucht. Wir sind währenddessen in den Alltag zurückgeschlittert, haben mit Paulas Depression gelebt. Manchmal schlecht, manchmal sehr schlecht. Manchmal gut. Selten sehr gut. Das war okay. Für mich. Bis zu einem gewissen Grad. Jetzt ist die Genehmigung da. Was nun?
„Die Psychiaterin hat gesagt, solche Anträge würden erst einmal abgelehnt“, klagt Paula. „Und dann …“, Paulas Stimme ist jetzt ganz dünn, „schau mal, wo die mich hinschicken wollen: Die Postleitzahl fängt mit einer '3' an. Das ist ja 500 Kilometer weg von hier.“ Mein Hirn wabert in seiner Karkasse hin und her, meine Knie werden weich. „Wieso das denn?“, schwappt aus meinem Mund. Wie soll Paula das wissen! Die Frage ist völlig blöde; meine Ratlosigkeit kommt vielleicht gerade deshalb zum Ausdruck. „Die sechs Stunden Fahrt stecken mir in den Knochen“, lüge ich, „ lass uns das morgen besprechen!“

Ich muss mich sammeln. Paula auch: Sie wälzt sich die ganze Nacht hin und her.

Von den Stadtwerken bekommen wir übrigens 230 Euro zurück.
Den Tag des Zahnziehers feiert man in Brasilien.