Paula poltert weiter. Wenn sie ein Bein ab hätte, würde ich das
als Krankheit anerkennen. Da sei sie sich sicher. Ihre Depression würde ich als
Psychokacke abtun. Ich sehe das anders. Selbstverständlich sehe ich das anders.
Da fällt mir Herr Meyer ein. Herr Meyer heißt –
vorbehaltlich der Schreibweise – tatsächlich Herr Meyer. (Sonst verwende ich ja
Pseudonyme.) Er ist der dusselige (Paar)therapeut, den ich gar nicht dusselig
finde. (Siehe Post „Das Menetekel …“) Als die Diagnose Depression feststeht und
ich so ganz langsam eine Ahnung davon bekomme, was auf mich – sorry: auf uns – zukommen
wird, will ich mich (nicht uns!) beraten lassen. Auf die Schnelle kann ich
keinen Spezialisten finden. Also mache ich einen Termin mit Herrn Meyer.
Mal abgesehen von seinem schaurigen schwäbischen Akzent
(Gruß an Wolfgang Thierse!) ist der Mensch echt in Ordnung. Okay, nicht der
Typ, mit dem ich mich auf ein Bier verabreden würde. Aber als Berater recht
brauchbar. Wie bei vielen Angehörigen von Depressionspatienten kommen in dem
Gespräch die Fragen auf, wo ich denn als Partner bliebe, wie hoch denn der
Preis sei, den ich zahle müsse, wenn Paula und ich den Weg durch die Depression
gemeinsam gehen (woll(t)en). Und wie Partnerschaft möglich sei. Oder auch, ob
Partnerschaft noch möglich sei.
Da zaubert Herr Meyer diesen Vergleichshasen aus dem Hut: „Stell‘
dir vor, deine Frau verlöre ein Bein bei einem Unfall. Das hätte wahnsinnig
viele Auswirkungen auf eure Beziehung so wie sie jetzt ist.“ Augenscheinlich
hat er Recht: Wir wohnen über drei Etagen, wir haben ein Auto mit
Schaltgetriebe, wir gehen oft tanzen (Chachacha ist unser Favorit.); Paula
trainiert gerade für den Halbmarathon. (Nicht zuletzt) deshalb hat sie
muskulöse schlanke Beine. Sie ist überhaupt sehr schlank und muskulös. Das ist
das, was ich an ihr am meisten sexy finde. Vor allem den definierten Bauch …
das aber gehört jetzt nicht unbedingt hierher …
„Du und Paula“, fährt Herr Meyer fort, „würdet bald an einen
Punkt kommen, an dem ihr euch fragt, ob ihr eure Beziehung unter dieser neuen
Voraussetzung auch neu definieren könnt und wollt. Ihr seid eure Beziehung
unter anderen Voraussetzungen eingegangen. Diese Frage ist also ebenso normal wie
legitim. Ebenso normal und legitim ist es u. U. dann auch, diese Beziehung zu beenden.“ „Uff, harter Tobak“, schießt es
mir durch den Kopf. Aber er hat – mal wieder – Recht.
Zuhause versuche ich diese Definitionsfrage zu stellen. Gelegentlich.
Ich frage nach Perspektiven und Kompromissen. Nach Möglichkeiten oder
Bereitschaft, zu reden. Aber leider versteht Paula die Fragen eben so, wie sie
sie versteht. Oder verstehen kann.
Manchmal denke ich, es wäre besser, sie hätte ein Bein ab.